Streit um neuen Regionalplan
Stadt Marl und Regionalverband Ruhr mit gegensätzlichen Vorstellungen von „nachhaltiger Stadtentwicklung“

Foto: In Marl gehen die Uhren anders? 

MARL. Dass die Stadt Marl anlässlich des neuen Regionalplanes dafür kämpft, die Lipperandstraße als überholte Planung endlich aus dem Bundesverkehrswegeplan zu streichen und die geplante Deponie auf der Halde Brinkfortsheide zu verhindern, ist lobenswert. Und ein geforderter neuer Autobahnanschluss mag Entlastungen für Anwohner vom LKW-Verkehr bringen. Jedoch völlig aus der Zeit gefallen ist dagegen die gleichzeitige Kritik des CDU-Fraktionsvorsitzenden an der sehr notwendigen Streichung überzogener Bauflächenausweisungen und strittiger Wohnbauprojekte in Marl, die einer ökologisch nachhaltigen und flächensparenden Stadtentwicklung entgegenstehen. (Dazu gehört nicht zuletzt das überflüssige Luxuswohngebiet „Hülser Waldpark“ als bloßes Renditeprojekt). Die Stadtplanung hat sich von Gesetzes wegen den Zielvorgaben der Raumordnung und Landesplanung durch den RVR als übergeordneter Regionalplanungsbehörde anzupassen, aus guten Gründen.

Der völlig überholte, weil 41 Jahre alte Flächennutzungsplan der Stadt Marl datiert von 1981 und war auf eine ursprüngliche Laufzeit von 15 Jahren ausgerichtet. Seither ist er nicht mehr neu aufgestellt und den heutigen planerischen und ökologischen Erkenntnissen der Nachhaltigkeit angepasst, sondern nur immer wieder mit anlassbezogenen Änderungen „fortgeschrieben“ worden. Zumeist ging es um Ausweitungen von Siedlungsflächen. Auch der für Marl gültige alte Regionalplan „Teilabschnitt Emscher-Lippe“ der Bezirksregierung Münster von 2004 ist mit seinen damaligen Siedungsflächenausweisungen nach 18 Jahren überholt, zumal das Münsterland und die Emscher-Lippe-Region sich als die größten „Flächensünder“ in NRW beim Flächenverbrauch herausstellten. 

Einwohnerrückgang: Überkommene Wachstumsideologien der 1970-er Jahre

Somit sind auch die damaligen Flächenausweisungen nach alten Wachstumsideologien der 1970-er Jahre dringend zu hinterfragen. Marl wird nach den Bevölkerungsprognosen des Statistischen Landesamtes bis 2030 ca. 16% Einwohner verlieren, bis 2040 sogar 21%. Das bedeutet ein Absinken auf eine Bevölkerungszahl von nur noch 66.300 Einwohnern  in den nächsten 20 Jahren. Marl ist wie fast alle Ruhrgebietsstädte eine schrumpfende Stadt aufgrund des Geburtenrückganges und Sterbefallüberschusses.

Diese durch Zuzüge von außerhalb zu kompensieren, würde einen irrationalen Konkurrenzkampf der Nachbarstädte um Flächen und Einwohner als kostspieliges und flächenzehrendes Nullsummenspiel bedeuten. Der neue Regionalplan für das gesamte Ruhrgebiet schreibt dementsprechend eine flächensparende und nachhaltige, kompakte Siedungsentwicklung vor und verpflichtet die Träger der Bauleitplanung, Bodenversiegelungen zu begrenzen und sich mit den Nachbarstädten abzustimmen.

Jahrzehnte alte Flächenbedarfsprognosen sind überholt

Deshalb hat der Regionalverband aktuell von den damaligen expansiven Flächenausweisungen nunmehr 17,3 ha Wohnsiedlungsfläche und 4,9 ha Gewerbeflächen zu recht für das Marler Stadtgebiet im neuen Regionalplan reduziert. Denn die damaligen Bedarfsprognosen auch der Bevölkerungsentwicklung sind völlig überholt. Die Kommunalpolitiker können sich deshalb nicht auf die überzogenen Flächenreserven von damals berufen, nach Jahrzehnte alten Planungsvorstellungen und bei einer damaligen Einwohnerzielzahl von über 90.000 Einwohnern (gegenüber heute 84.000 Einwohnern).

Denn im alten Flächennutzungsplan ist die Stadt Marl unter Pkt. 3.2 beim Wohnbauflächenbedarf noch von jährlichen Steigerungsraten und stetigem Bevölkerungszuwachs  und somit von 130 ha neuer Wohnbaufläche und 110 ha neuer Gewerbeflächen ausgegangen - aus heutiger Sicht völlig überzogen! Zur Bevölkerungsentwicklung schrieb die Stadt Marl schon 2008 in ihrem damaligen „Demografie-Bericht“: „Die Stadt Marl muss bereits seit einigen Jahren einen Rückgang ihrer Bevölkerung verzeichnen. Innerhalb von sieben Jahren ist ein Rückgang um fast 3.300 Personen zu verzeichnen. Dies entspricht einem Rückgang um rund 3,5%. In Zukunft wird sich die Bevölkerungszahl in Marl weiter rückläufig entwickeln.“

Rationale Argumente im Dialog mit den Regionalplanern

Im intensiven Diskurs mit allen 53 Revierstädten hat deshalb der RVR im Vorfeld des Regionalplanes nachhaltige Methoden und Kriterien für realistische und nachhaltige Flächenausweisungen und Bevölkerungszielzahlen  gemeinsam abgestimmt. Diese führen jetzt bei mehreren Städten zur notwendigen Korrektur überkommener Zielvorstellungen aus der Zeit des ungezügelten „Flächenfraßes“ an den grünen Stadträndern. Wenn die Kommunalpolitiker der Stadt Marl aus ideologischen Gründen oder zur Bedienung von Interessen der örtlichen Immobilienwirtschaft eine deutliche Abweichung vom Regionalplan statt eine unvermeidbare Reduzierung verlangen, dann müssen sie dazu überzeugende Argumente statt bloße Forderungen vorbringen.

In Wirklichkeit offenbart sich in dem kommunalpolitischen Protest der Marler CDU – wie schon zuvor auch von der CDU in der Nachbarstadt Dorsten vorgebracht - die überkommene Denkweise des unendlichen Bevölkerungs- und Siedlungsflächenwachstums der expansiven 1970-Jahre, die den Klima- und Artenschutz massiv gefährdet und den Aspekt der Nachhaltigkeit ignoriert. Erst kürzlich haben Wissenschaftler und Naturschützer Alarm geschlagen, weil der Klima- und Artenschutz es zwingend erfordert, das Thema „Flächensparen“ auf allen Planungsebenen ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Denn ohne Flächenschutz misslingt der Klima- und Artenschutz. Doch das notwendige Umdenken hat die Köpfe der politischen Entscheidungsträger in Marl noch nicht erreicht? Dann muss die übergeordnete Planungsebene das vorgeben.

Marl: „In der Raumplanung gibt es eine eindeutige Hierarchie“

Unter Pkt. 1.4 ihres vom Rat verabschiedeten Flächennutzungsplanes von 1981 schreibt die Stadt Marl selber: „Unter den Zielen, die jeder Planung zugrunde liegen, gibt es immer auch übergeordnete, die in der Regel von vornherein als verbindlich angesehen werden müssen. Auch in der Raumplanung gibt es eine eindeutige Hierarchie von Planungen und Planungsträgern, wobei die jeweils nachgeordnete sich nur im Rahmen der übergeordneten Planung bewegen kann. Der Flächennutzungsplan muss sich den Zielen der Landesplanung anpassen, die durch die Gebietsentwicklungspläne (heute: Regionalpläne) konkretisiert werden.“

Vielleicht kann jemand den Marler CDU-Fraktionsvorsitzenden über die geltende Gesetzeslage im Planungsrecht aufklären? Im Rahmen des sogenannten „Gegenstromprinzips“ wird die Stadt von der Regionalplanungsbehörde vorher angehört, kann aber nicht verlangen, dass ihre städtischen Maximalforderungen gefälligst 1:1 im Regionalplan zu berücksichtigen sind. Ein Blick in das geltende Baugesetzbuch § 1 (4) verdeutlicht: „Die Bauleitpläne sind den Zielen der Raumordnung anzupassen.“ Das hat also nichts mit angeblichem „Eingriff in die städtische Planungshoheit" zu tun, da diese sich nur im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen kann.

Inanspruchnahme neuer Siedlungsflächen sind kritisch zu hinterfragen

Es helfen also weniger städtische Forderungen als vielmehr tragfähige Argumente und Fakten gegenüber der Regional- und Landesplanung. Kann die Stadt Marl solche vorweisen? Argumentationshilfe gibt das Umweltministerium NRW: „Denn nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch mit Blick auf den demografischen Wandel und der anhaltenden Krise der öffentlichen Haushalte sind die Kommunen gezwungen, die Siedlungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte kritisch zu hinterfragen. Die anhaltende hohe Neuinanspruchnahme von Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke stellt ein gravierendes Problem auf dem Weg zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung dar.“

Und weiter heißt es aus dem Ministerium: „Eine weiterhin hohe Inanspruchnahme neuer Flächen auf der „grünen Wiese“ ist angesichts einer Bevölkerung, die nicht nur immer weniger, sondern auch älter und bunter wird, wenig nachhaltig. Der demografische Wandel und eine Ausdifferenzierung der Lebensstile führen gleichwohl zu einer qualitativen Veränderung der Wohnraumnachfrage. Die weitere Ausdehnung der Siedlungs- und Verkehrsfläche außerhalb bestehender Siedlungskerne erweist sich zudem immer mehr als Kostenproblem für die Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Die Kommunen schränken so ihren eigenen Handlungsspielraum massiv ein. Eine auf Vorratshaltung ausgerichtete Angebotsplanung ist für die Kommunen nicht mehr tragbar und auch nicht zukunftsfähig“.

Bundesbauministerin: „Genügend Bauland für den Wohnungsbau vorhanden“

Die Bundesbauministerin hat Ende März eine aktuelle Studie nach Befragung von 3.000 Städten und Gemeinden vorgelegt, mit dem Ergebnis: „Es gibt ausreichend verfügbares Bauland in Deutschland für aktuell 200.000 neue Wohnungen, sowohl in ländlichen Gegenden als auch in Ballungsräumen, insgesamt 100.000 Hektar baureife und potenziell bebaubare Flächen. Das Ziel für jährlich 400.000 neue Wohnungen und 100.000 Sozialwohnungen lässt sich erreichen, ohne dabei viel zusätzliche Fläche zu verbrauchen. Wir können es uns ökonomisch und ökologisch nicht leisten, Flächen zu verschwenden.“

Die Ministerin wirbt für eine kluge Nutzung von Brachflächen und Baulücken. In Städten mit besonders viel Nachfrage müsse man auch auf bereits genutzten Flächen bauen. Das bedeute, Gebäude aufzustocken, Dachgeschosse ausbauen und Keller als Souterrain umgestalten, Discounter und Innenhöfe zu überbauen, bebaubare Verkehrsflächen nutzen sowie das Bauen in zweiter Reihe. etc. Die Ministerin: „Land zum Bauen ist genug da. Jetzt kommt es auf den gemeinsamen Willen an, so viel bezahlbares Wohnen wie möglich auf den Wohnungsmarkt zu bringen.“ Bei dichterer Bebauung lassen sich auf den vorhandenen Flächen bis zu 2 Millionen Wohnungen inklusive Sozialwohnungen auch für die Ukraine-Flüchtlinge bauen. Das bedeutet eine Abkehr vom bevorzugten Eigenheimbau für Besserverdiende mit weiterem Landschaftverbrauch allein zu deren Nutzen.

Umweltministerium und Regionalplan verpflichten die Kommunen zu flächensparendem Bauen

Unter aktivem Flächenschutz versteht der Regionalplan flächensparendes Bauen durch Aktivierung von Baulücken mit Vorrang der Innenentwicklung bei gleichzeitiger Entsiegelung und Rekultivierung von Flächen sowie vorsorgendem Bodenschutz, indem die Funktionsfähigkeit der Böden erhalten und der Freiraum geschont bleibt. Vor allem sollen landwirtschaftliche Flächen als wesentliche Produktionsgrundlage mit ihrer hohen Wertigkeit erhalten bleiben und vor dem Zugriff durch andere Nutzungen geschützt werden (unabhängig von etwaigen Verkaufsinteressen der Landwirte und Grundbesitzer).

Das NRW-Umweltministerium weist in seinem Flächenportal ausdrücklich darauf hin, dass die Planungshoheit der Gemeinden eine besondere Verpflichtung für den Flächen- und Bodenschutz beinhaltet. „Aufgrund der Planungshoheit sind die Städte und Gemeinden die wahren Schlüsselakteure beim Flächenmanagement.“ Die kommunale Planungshoheit ist also auch eine Umweltverpflichtung. Sowohl EU als auch Bund und Land verpflichten deshalb die Kommunen, ihren Flächenverbrauch bis 2030 zu halbieren (bis 2050 sogar auf netto-Null zu senken durch Flächenkreislaufwirtschaft) sowie das Verhältnis von 3:1 zwischen Innenentwicklung zu Außenentwicklung einzuhalten.

Regionalplan im Einklang mit dem übergeordneten Landesentwicklungsplan

Auch der Landesentwicklungsplan NRW verpflichtet die kommunalen Träger der Bauleitplanung, im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes auf eine flächensparende kompakte Siedlungsentwicklung mit der geringstmöglichen Inanspruchnahme des Freiraumes hinzuwirken. Deshalb strebt der Landesentwicklungsplan den Erhalt und die Entwicklung des Freiraumes sowie den Bodenschutz an.

Der Freiraum ist grundsätzlich zu erhalten und seine ökologische, soziale und wirtschaftliche Bedeutung entsprechend zu sichern. Der Freiraumschutz hat wesentlichen Einfluss auf das Klimageschehen, so dass sich die Siedlungsentwicklung der Gemeinden innerhalb der regionalplanerisch festgelegten Siedlungsbereiche vollziehen soll. Der vier Jahrzehnte alte Marler Flächennutzungsplan geht jedoch weit darüber hinaus. Warum sich die Stadt Marl nicht den Vorgaben einfach entziehen kann, zeigen die dramatischen Entwicklungen des „Flächenfraßes“ in nachfolgenden Zahlen:

Dramatischer Freiflächenverbrauch im nördlichen Ruhrgebiet und Münsterland

Jeden Tag werden in NRW ca. 10 -15 Hektar Boden (das sind bis zu 150.000 qm) in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt), davon 25% allein im Regierungsbezirk Münster mit dem nördlichen Ruhrgebiet. Hier liegt der Siedlungsflächenverbrauch mit 14 qm pro Tag je 1000 Einwohner fast doppelt so hoch wie in NRW mit 8 qm pro Tag je 1000 EW. Das seinerzeit angestrebte Reduktionsziel der Landesregierung NRW von 5 ha für 2020 ist damit völlig verfehlt worden, ganz zu schweigen von einem ehrgeizigen Ziel der Halbierung nunmehr bis 2030 und einem anzustrebenden Netto-Null-Verbrauch bis 2050 durch Flächenkreislaufwirtschaft.

Täglich werden so immer noch Freiflächen in einer Größenordnung von 14 Fußballfeldern für Siedlungs- und Verkehrszwecke in Anspruch genommen, zuvorderst durch die Gemeinden! Die Ausbreitung der Siedlungsgebiete zerstört die Lebensräume von Tieren und Pflanzen in bedenklichem Ausmaß und beschleunigt die Klimakatastrophe. Die weitere Inanspruchnahme von Freiflächen oder ökologisch wertvollen innerstädtischen Flächen durch die Städtebaupolitik in Marl würde einer nachhaltigen Zukunft entgegenstehen.

Der Marler „Kampf gegen Windmühlenflügel“

Nur eine nachhaltige Stadtentwicklung wird den Ansprüchen der Bürger auch in Zukunft gerecht. Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum geht auch flächenneutral. Die Städte der Zukunft sind kompakt und schützen Freiräume. Die Bundesregierung hat dafür eigens ein Förderprogramm aufgelegt: „Auf weniger Platz leben“. Damit sollten sich die Marler Kommunalpolitiker beschäftigen, statt mit ihrem „Kampf gegen Windmühlenflügel" bei der Regionalplanung.

Wilhelm Neurohr, 7. April 2022

Hinweis: Eine Vertiefung zum Thema des Flächenverbrauchs durch kommunale Siedlungspolitik ist der Halterner Flächenstudie des Autors von März 2021 zu entnehmen, die sich teilweise auch auf Marl übertragen lässt. Als pdf-Datei kostenfrei erhältlich unter Wilhelm.Neurohr@web.de

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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