Sankt Martin
Das mystische Ssinter-Mätes-Vögelsche

Foto: Franz B. Firla nach der Vorlage eines NABU-Fotos
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oder: Der Mätesphönix im Mülheimer Martinsbrauchtum

Wer ist das Ssinter-Mätes-Vögelsche? Die Frage, an der Rektor Klewer (1865 – 1932) bis unmittelbar vor seinem Tod arbeitete, hatte mich vor 20 Jahren heftig gepackt und ich trug alles zusammen, was über derartige Heischelieder in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland in Erfahrung zu bringen war. Dabei war schon früh zu erkennen, dass dieses Lied nicht - wie behauptet wurde - in Mülheimer entstanden sein konnte, denn es gab Hunderte Varianten. Das sollte dann zur Ablehnung meines Buchmanuskriptes durch die Mülheimer Brauchtumsexperten des Geschichtsvereins führen. Verstörend war zunächst auch, dass es in Tours, dem Sterbeort des hl. Martin, keine Martinszüge der Kinder am Martinstag gibt, weil dies wohl ein am Rhein entstandener Brauch ist. Dies und anderes trug ich bei einem Vortrag für den Geschichtsverein 2002 in der alten Post vor, endend mit dem Appell, dem Rektor Klewer für seine Pionierarbeit zur Erhaltung der heimischen Mundart eine Straßenbenennung zu widmen. Daraus ist leider bisher nichts geworden.
Was mein Interesse trotzdem wachgehalten hat, waren neben der jährlichen Beteiligung an Chubbel Chrabbel und Innenstadtmartinszug die vielen Varianten des Liedes, aber ganz besonders der Begriff „Ssinter-Mätes-Vögelsche“. Nach zahlreichen Recherchen fragte ich mich: Ist „Vögelsche“ nur ein Reimwort auf Kapögelsche - wie in niederländischen Varianten (hier Venlo) „Kip, Kap, Kogel, Sinte Meertens Vogel“ – oder dürfen wir darin den literarisch gesicherten Begriff „Martinsvögelchen“ sehen, den es bereits im Mittelalter gab?
Der Theologe(!) Peter v. Blois (Petrus Blesensis) schreibt z. B. um 1200 in einem Brief: "de jucundo gloriantur hospitio, si a sinistra in dextram avis sancti Martini volaverit". („Wenn der Martinsvogel von links nach rechts den Weg überfliegt, wird man willkommen sein.“)
Die Frage ist nicht einfach zu entscheiden, weil die Heischelieder einerseits immer wilde Reimereien waren, bei denen eine Textzeile mit der folgenden, also der Reimzeile, nicht unbedingt inhaltlich etwas zu tun haben musste. Andererseits wird ganz am Ende noch der „Pferdefuß“ genannt, der ebenfalls einem eher mittelalterlichen Volksglauben angehört.
Das Martinsvögelchen ist seit den ersten Erwähnungen in mittelalterlichen Schriften keine bestimmte Vogelart, es wird auch lange Zeit keine besondere Kennzeichnung angegeben. Es konnte also im Prinzip jeder Vogel sein, der sich bei der Erstbegegnung (dem „Angang“ wie man früher sagte) z.B. auf einem Waldweg von links kommend zur Rechten niedersetzte.
Vogelflugdeutungen sind spätesten seit den Römern als Auspizien, bei denen Auguren den Vogelflug als Zeichen der Götter deuteten, wohlbekannt.
Dass ein Vogel mit einer Gottheit verbunden ist, kennen wir bereits aus dem alten Ägypten (Benu, als Reiher dargestellt). Neu wäre, dass man nach der Christianisierung einen Heiligen damit verbindet.
Nun geht es beim Ssinter Mätes Vögelsche aber um einen unsichtbaren Vogel, der zwar von den Kindern quasi angerufen wird, indem sie seinen Flug schildern, (cheflooge, chestoowe öwer dä Rhin) der aber nicht persönlich erscheint.
(manche Forscher vermuten beim Heischen mitgeführte Vogelmasken)
Das Ssinter Mätes Vögelsche gleicht somit einem anderen unsichtbar bleibenden Vogelmythos, dem Phönix, mit dem der bei uns als Martinsvogel angesehene Schwarzspecht überdies noch gemeinsam hat, dass er aufgrund der roten Schädelzeichnung auch mit Feuer assoziiert wurde.
Es entsteht nun vor unserem geistigen Auge das Bild eines unsterblichen „Mätesfönix“, der alljährlich aus der Asche des heiligen Martins aufsteigt und die Kinder zu ihrem Heischegang an die erfolgversprechenden Türen leitet.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fragten sich Brauchtumsforscher, ob mit dem Vögelchen des Liedes eine Epiphanie des hl. Martin gemeint sein könnte? Also, eine Erscheinung des hl. Martin in anderer Gestalt? Wahrscheinlicher ist, dass dieser mit dem Zufall spielenden Methode der Zukunftsdeutung und des sich Vergewisserns in christlicher Zeit einfach der Name eines „gottähnlichen“ Christenführers (Heiligen) übergestülpt wurde. Und dabei ist nicht nur der hl. Martin mit seiner Mantelteilung gemeint, nein, auch der Klostergründer, der Missionar, der Kirchenführer, der, der jetzt den rechten Weg weist: Zuerst war der Glaube da an einen wegweisenden Vogel, einen mythischen Glücksvogel, dann die Kenntnis vom sagenumwobenen Kirchenführer und Missionar Martin, und dann wurde beides miteinander vermischt. Umwidmung nennt man das auch. Der alte Glaube lebt im neuen weiter.
Durch die Initiative von Wilhelm Klewer und seinem Plattdütschen Krink können noch viele Mülheimer die zwei Zeilen mit dem Vögelchen rezitieren, auch wenn sie sonst über keine Plattkenntnisse mehr verfügen, selbstverständlich, ohne zu wissen, wer dieses Vögelchen denn sein soll.
Und wenn mich Rektor Klewer heute fragen würde: „Wän üs dat Ssinter Mätes Vöügelsche?“, dann würde ich ihm antworten: „Nein, Wilhelm, nicht deine Kornweihe und auch nicht der Eisvogel, der im Französischen „Martinsfischer“ heißt, es ist dä mölmsche Mätesphönix!“

Und ich möchte mich trotz der nicht eindeutig festzulegenden Gestalt dafür einsetzen, das ihm in der Mülheimer Altstadt ein sichtbares Denkmal gewidmet wird.

PS. Als ich diesen Text am frühen Morgen noch im Bett überarbeitet hatte, stand ich auf, zog die Fenstervorhänge auseinander und sah zu meiner Rechten einen Vogel auf der Dachrinne sitzen, der mich aufmerksam ansah. Er hatte kein rotes Käppchen, aber ein rotes Brüstchen. Es war ein Rotkehlchen. Nur wenig später kam eine E-Mail an, in der ich eingeladen wurde, im Karl-Ziegler über Mölmsch Platt zu sprechen.

Foto: Franz B. Firla nach der Vorlage eines NABU-Fotos
Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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