Die " no budget " Theaterproduktion der " Haarmannprotokolle " als psychologische Studie im Café Stilbruch

Foto: Hakan Yildirim
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von Claudia Wädlich ( Kriminologin und Literatin )

Das Stück basiert auf einer kompromierten Fassung der 1924 protokollierten Gespräche des vom Gericht beauftragten Psychiatrieprofessors Dr. Ernst Schultze, der die Schuldfähigkeit Haarmanns prüfen sollte.

Außen vor bleibt in dem Kammerspiel eine Analyse des Versagens der Instanzen der Sozialkontrolle, der Umstände der polizeilichen Ermittlungen, der Unfähigkeit des Gerichts, auch infolge der verheerenden Einflussnahme seitens der Medien auf das Strafverfahren.

Der mit kleinbürgerlichen Vorurteilen behaftete und inkompetente Psychiater ergab sich letztendlich dem Druck der Öffentlichkeit; die Tötungskriminalität wurde auf das Geschehen der Ermordung der Opfer und Ihrer weiteren " Bearbeitung " reduziert.

Der Philosoph Theodor Lessing, der als einziger ein noch heute gültiges authentisches Buch über den Fall " Haarmann " verfasst hatte, kam zu dem Schluss, dass " kaum jemals ein bedeutender Prozess unfähiger, kleinlicher und törichter geführt worden ist " .

Dieser wirft einen bezeichnenden Blick auf die Praxis in der frühen Weimarer Republik und ihre Einbettung in eine unruhige politische Zeit.
Haarmanns Spitzelarbeit für die Polizei, die dazu führte, dass den Vermisstenanzeigen nicht oder nur unter Zeitverzögerung nachgegangen wurde, blieb unberücksichtigt.
Ebenso die Rolle der Mittäter, speziell die seines homosexuellen Partners Grans, dem in einem getrennten Verfahren der Prozess gemacht wurde.
Die " Folterungen " Haarmanns zur Erpressung von Geständnissen wie auch der sexuelle Mißbrauch, den der Täter im Laufe seines Lebens wiederholt erlitten hatte und die nach seiner Enthauptung festgestellte frühere Hirnhautentzündung bei dem Delinquenten, die zu Wesensveränderungen führen kann, spielte in dem Verfahren keine Rolle.
Kurz gesagt, Haarmann hätte in einem ordentlich ablaufenden Prozess für schuldunfähig erklärt werden müssen.

Viola Neumann gibt dem homosexuellen Serienmörder ein anderes Gesicht als Götz George in dem preisgekrönten Film " Der Totmacher " .
Auf der optisch bedrängend wirkenden Kleinkunstbühne des Café Stilbruchs offenbart das Kammerspiel zwischen dem Psychiater Professor Dr. Ernst Schultze ( hervorragend arrogant und dümmlich abwehrend gespielt von
Claus - Peter Rathjen ) und dem zwischen Kriechertum vor Autoritäten und schizophrenen Ausbrüchen schwankenden Haarmann die Unfassbarkeit seiner Taten.
Viola Neumann versucht, sich mit ihrem bewußt expressiven Stil eindringlich dem widersprüchlichen Charakter Haarmanns anzunähern.
Sein mangelndes Unrechtsbewußtsein, sein übersteigerter Größenwahn, seine Taten in einem Denkmal zusammen mit seinen Opfern zur Schau stellen zu wollen, um sich vor der Öffentlichkeit noch hundert Jahre später ins Gedächtnis zu brennen, zeigen die Verbiegungen, die die moderne Zeit bei kranken Straftätern bewirkt.
Seine Unfähigkeit, Einsicht in seine Tat zu nehmen und die " Kopfschmerzen " vor den Totschlägen hätten den Psychiater alarmieren müssen.
Neumanns Theatralik lässt etwas von den Umständen der Reaktion der damaligen öffentlichen Wahrnehmung und medialen Verarbeitung der Taten des angeblichen " Werwolfs " von Hanover erahnen, der zur Bestie stilisiert wurde und seine negative Faszination in Spielfilmen, Skulpturen, Straßenbenennungen verkam, so in Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder, der auf der Berichterstattung beruhte oder in der jüngsten Entgleisung einer Haarmannmeile zur Expo.

Die Fokussierung auf den Täter und die mangelnde Perspektive aus der Sicht der Opfer ist die einzige Schwäche des Stücks.
Ansonsten kann man die " no budget " - Produktion als höchst empfehlenswert einstufen.

Die Leistungen beider Schauspieler wurde mit frenetischem Beifall belohnt. Ebenso die sparsam eingesetzten düsteren und dramatisch musikalischen Akzente von Lars Nauhardt, die die gelungene Inszenierung vervollständigten.

Autor:

Claudia Wädlich aus Oberhausen

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