Jobcenter muss bei Tilgung von Schulden für Haushaltsenergie helfen

„Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat das Jobcenter Münster verurteilt, einem Leistungsbezieher vorläufig ein Darlehen zur Tilgung von Strom- und Gasschulden in Höhe von rd. 3.000 EUR zu bewilligen (Beschluss vom 13.05.2013, Az.: L 2 AS 313/13 B ER).
Zwar hatte das Jobcenter dem klagenden „Hartz IV“-Empfänger schon Abschläge für die Gasheizung gezahlt. Dieser hatte die Zahlungen aber nur teilweise an die Stadtwerke weitergeleitet und war auch mit den Abschlägen für Strom in Rückstand geraten. Dadurch hatten sich erhebliche Schulden bei den Stadtwerken für den Energieverbrauch angehäuft.“
justiz.nrw.de

Hinter dieser nur knappen Pressemeldung des Justizministeriums NRW verbirgt sich eine Geschichte, die tiefe Einblicke ich die Auswirkungen der Hartz IV-Wirklichkeit enthüllt.

Vorab ist festzustellen, dass entgegen den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts (1 BvL 1/09) bis heute keine realistische Bedarfsermittlung vorliegt. Dies zeigt bereits unübersehbar die fortwährende Bedarfsunterdeckung beim Haushaltsstrom.

Das Urteil des LSG NRW zeigt eine Verkettung von schwierigem Kundenprofil, erschwerten Lebensumständen, sozialer Ausgrenzung, offensichtlicher Hilfebedürftigkeit, Energiefressenden Haushaltsgeräten, minderwertigem Wohnraum, einer Verkettung von Fehlentscheidungen des Jobcenters, aber auch der Realitätsferne beim erstinstanzlichen Sozialgericht.

Beispielhaft sollen ein paar Kuriositäten benannt werden, wobei nicht vergessen werden darf, dass der Mann einen Teil seiner Leistungen nicht weitergeleitet hat:

- es wurde ein deutlich überhöhter Energieverbrauch wegen veralteter Geräte gemessen
- nach der Sperre dokumentiert der Ermittlungsdienst: Der Antragsteller sei mit einer Stirnlampe am Kopf angetroffen worden. Daraufhin wurden auch rechtswidrig die Energiepauschale aus der Regelleistung gekürzt
- in Ermangelung von Strom wurden entsprechend Kerzen zur notdürftigen Beleuchtung eingesetzt
- zur Heizung wurde in der Folge ein Gasbrenner in der Wohnung betrieben, wobei die Flaschen jeweils für drei Tage ausreichten und jede Gasflasche mit 29,14 € zu Buche schlug
- Schimmelbildung im Wohnraum sorgt für weitere Folgekosten
- ein angezeigter dreiwöchiger Haftantritt führte zu einer weiteren rechtswidrigen Kürzung durch das Jobcenter, konnte aber durch Kostenübernahme eines Bußgeldes in Höhe von 1800,00 € durch einen Bekannten „in letzter Minute“ abgewendet werden
- das Sozialgericht Münster vertrat die Ansicht das zweckgebundene Privatdarlehen hätte zur Energieschuldentilgung eingesetzt werden müssen, Knast sei zumutbar
- bei der ausgeübten geringfügigen Beschäftigung legte das Jobcenter ein fast doppelt so hohes Einkommen an und kürzt damit weiter die Leistungen
- Beratung und Unterstützung durch den Antragsgegner hat nicht stattgefunden
- . . .

Zuletzt stellt das Gericht fest: „Die Übernahme von Schulden ist nicht allein bei wirtschaftlich unvernünftigem (vorwerfbarem) Verhalten des Leistungsberechtigten abzulehnen. Die Regelung des § 22 Abs. 8 SGB II liefe sonst leer, weil Schulden im dort genannten Sinn in aller Regel auf ein Fehlverhalten des Leistungsberechtigten zurückzuführen sind (BSG Urteil vom 17.06.2010 - B 14 AS 58/09 R - Rn 31).“

Außerdem wird das Jobcenter wegen einer „erheblichen Verletzung“ seiner
Beratungspflichten und der Versäumnisse „über gestellte Anträge rechtsmittelfähig zu entscheiden“ gerügt.

Volltext des Urteils
LSG NRW, L 2 AS 313/13 B ER, 13.05.2013
Vorinstanz: Sozialgericht Münster, S 5 AS 832/12 ER, 14.02.2013

Wer aber kann Schulden abbauen, wenn nicht einmal die Sozialbehörde die Grundleistungen ausgekehrt werden?

Beachtenswert sind auch die überlangen Entscheidungsprozesse im Einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Obwohl die Nichtversorgung mit Energie einer als der Obdachlosigkeit gleichgestellten Lebenssituation angesehen wird, dauerte die Energiesperre von Antragstellung November 2011 bis zur Entscheidung der 1. Instanz am 14.02.2013 bis zum Beschluss des LSG NRW am 13.05.2013 immerhin sechs Monate.

Stromkosten im Schnitt um 31 Prozent höher im Hartz-IV-Satz vorgesehen sind

Eine alleinstehende Person zahlt im Durchschnitt monatlich 41,88 Euro für Strom. Im ALG-II-Regelsatz ist aber für Wohnen, Energie und Instandhaltung lediglich ein Betrag von 31,94 Euro vorgesehen.* ALG-II-Bezieher müssen somit rund zehn Euro (31 Prozent) im Monat zum Beispiel bei Nahrungsmitteln oder Kleidung einsparen.

Bei der gleichen CHECK24-Untersuchung im Jahr 2011 lag der Unterschied noch bei 26 Prozent, die Belastung ist also seit 2011 von acht Euro um 25 Prozent auf rund zehn Euro gestiegen.
themenportal.de

Dazu:
Hartz IV: Jobcenter muss Stromschulden übernehmen

Während privilegierte Kunden und Firmen von „Sozialtarifen“ regelmäßig profitieren, trifft gerade die Sozialschwachen und Niedriglöhner die volle Wucht der DAX-Unternehmen.

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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