Wissenschaftliche Kritik
Wo bleibt die Evidenz bei Coronamaßnahmen?

"Inzwischen  ist  klar,  dass das Virus weltweit verbreitet  ist und die Menschheit sich wahrscheinlich dauerhaft  mit seiner Existenz auseinandersetzen muss. Es stellt sich die Frage nach der bestmöglichen Strategie für ein Leben mit dem Virus, die einerseits der Erkrankung entgegenwirkt und andererseits die Lebensqualität und Gesundheit der Menschen nicht durch Kollateralschäden der Eindämmungsmaßnahmen gefährdet. ", erklärt das EbM-Netzwerk zur Corona-Situation. | Foto: EbM-Netzwerk
  • "Inzwischen ist klar, dass das Virus weltweit verbreitet ist und die Menschheit sich wahrscheinlich dauerhaft mit seiner Existenz auseinandersetzen muss. Es stellt sich die Frage nach der bestmöglichen Strategie für ein Leben mit dem Virus, die einerseits der Erkrankung entgegenwirkt und andererseits die Lebensqualität und Gesundheit der Menschen nicht durch Kollateralschäden der Eindämmungsmaßnahmen gefährdet. ", erklärt das EbM-Netzwerk zur Corona-Situation.
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Das im Jahr 2000 gegründete Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM-Netzwerk) fragte im September 2020 angesichts der Corona-Situation in einer zehnseitigen Stellungnahme "COVID-19: Wo ist die Evidenz?" nach der unmittelbaren kognitiven Nachvollziehbarkeit der Zusammenhänge. In der Medizin bezeichnet Evidenz den empirisch erbrachten Nachweis des Nutzens einer diagnostischen oder therapeutischen Aktion.

Im Namen des geschäftsführenden Vorstands des EbM-Netzwerkes veröffentliche Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen die Stellungnahme, die hier in Auszügen dokumentiert wird. Die gesamte Stellungsnahme finden Sie hier: https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20200903-covid19-update.pdf

"Die Zeiten des exponentiellen Anstiegs der Anzahl der Erkrankten und der Todesfälle sind im deutsch-sprachigen Raum seit fünf Monaten vorbei. Der momentan zu verzeichnende Anstieg an Test-positiven ohne gleichzeitige Zunahme von Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen und Todesfällen rechtfertigt derzeit keine einschneidenden Maßnahmen, sofern diese nicht durch hochwertige Forschung vorab geprüft oder parallel begleitet sind.", erklärt das EbM-Netzwerk, das laut eigener Auskunft rund 1.000 Mitglieder aus verschiedenen Fächern, Professionen, Sektoren und Organisationen hat und Raum für unabhängige, kritisch-wissenschaftliche Diskussionen zu allen Fragen im Zusammenhang mit einer evidenzbasierten gesundheitlichen Versorgung bietet.

Verhältnismäßigkeit der öffentlichen Berichterstattung
"Die mediale Berichterstattung sollte unbedingt die von uns geforderten Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation beherzigen und die irreführenden Meldungen von Absolutzahlen ohne Bezugsgröße beenden. (...) Besonders zu kritisieren ist, dass die öffentliche Berichterstattung im deutschsprachigen Raum nicht konsequent zwischen Test-positiven und Erkrankten unterscheidet. Zu bemerken ist, dass die steigende Anzahl der Test-positiven nicht von einem parallelen Anstieg der Hospitalisierungen und Intensivbehandlungen oder Todesfälle begleitet ist. Dies weckt doch erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Tests und der täglichen Berichte der neuen Test-positiven. (...) Überhaupt muss mit Vehemenz kritisiert werden, dass die SARS-CoV-2 Inzidenzen fast ausschließlich als Absolutzahlen ohne Bezugsgröße berichtet werden. Die Bekanntgabe der Gesamtzahl der Test-positiven und der Todesfälle erfolgt zudem kumulativ, was den Grundprinzipien der Darstellung epidemiologischer Daten widerspricht.", kritisiert das EbM-Netzwerk die von vielen als sehr einseitig und irreführend wahrgenommene Berichterstattung der meisten Medien.

Massentestungen & Aussagekraft
"Statt ungezielter Massentestungen sollten zum einen gezielte repräsentative Stichproben aus der Bevölkerung gezogen und angemessen berichtet werden, zum anderen die Testungen auf Hochrisikogruppen beschränkt werden, um die Vortestwahrscheinlichkeit zu erhöhen (also Personen mit COVID-typischer Symptomatik und vorangegangener Exposition). (...) Bei der Betrachtung des Nutzens der derzeitigen Teststrategie ist festzustellen, dass es keine wissenschaftliche Evidenz für einen Nutzen gibt und dass offenbar auch nicht daran geforscht wird, diesen Nutzen zu evaluieren. Zumindest sollte dokumentiert und differenziert werden, aus welchen Gründen die Tests durchgeführt werden und zu welchen Konsequenzen die Testergebnisse führen. Diese Zahlen müssen öffentlich zugängig gemacht werden. Die derzeitige Teststrategie und Informationspolitik erweckt eher den Anschein, dass die positiven Testergebnisse ohne Bezug zur Menge der durchgeführten Tests und ohne Bezug zur Bevölkerung benutzt werden, um die derzeitige Strategie zur Eindämmung der COVID-Pandemie zu rechtfertigen. Die derzeit propagierte Nationale Teststrategie ist teuer und mit hoher Wahrscheinlichkeit nutzlos, alleine schon, weil es aufgrund der nicht ausreichend hohen Sensitivität, der hohen Rate asymptomatisch Infizierter und der unbekannten Dunkelziffer von Virusträgern nicht gelingen kann, SARS-CoV-2 aus der deutschen, österreichischen oder Schweizer Bevölkerung zu eliminieren. Richtig wäre es, die Testungen auf Personen mit hohem Risiko für das Vorliegen einer Infektion zu fokussieren, um die Vortestwahrscheinlichkeit und damit die Aussagekraft des Testergebnisses zu erhöhen.", kritisiert das EbM-Netzwerk auch die Massentestungen und schlägt Alternativen vor.

Weitgehend fehlende Evidenz ergriffenen Maßnahmen

"Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz, weder zu COVID-19 selbst noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen, aber es ist nicht auszuschließen, dass die trotz weitgehend fehlender Evidenz ergriffenen Maßnahmen inzwischen größeren Schaden anrichten könnten als das Virus selbst. Jegliche Maßnahmen sollten entsprechend wissenschaftlich begleitet werden, um den Nutzen und Schaden bzw. das Verhältnis von Nutzen und Schaden zu dokumentieren. Es werden insbesondere randomisierte Studien dringend benötigt um die politischen Entscheidungen angemessen zu stützen. Mit dieser ausführlichen Stellungnahme möchten wir anregen, mit kritischem Blick aus der Perspektive der evidenzbasierten Medizin den derzeitigen Umgang mit SARS-CoV-2 und der möglicherweise resultierenden Erkrankung COVID-19 zu hinterfragen, um daraus Schlussfolgerungen für die Wissenschaft und den Umgang mit dem Virus zu entwickeln.", erläutert das EbM-Netzwerk die Motivation für die Stellungnahme.

"Der Zenit der Pandemie wurde nach einem anfänglich exponentiellen Anstieg der laborbestätigten Fälle in Deutschland bereits am 16.3.2020 mit 5.481 Testpositiven pro Tag [4], in der Schweiz am 23.3.2020 mit 1.463 Testpositiven pro Tag [5] und in Österreich am 26.3.2020 mit 1.065 Testpositiven pro Tag [6] überschritten. Zuvor waren erste Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung, vor allem ein Verbot von Großveranstaltungen, ausgesprochen worden (Deutschland 13.3., Österreich 10.3., Schweiz 28.2.). Zumindest in Deutschland gingen die Zahlen also bereits zurück, bevor am 23.3.2020 die von der Bundesregierung beschlossenen umfassenden Maßnahmen zum Social Distancing (Schul-schließungen, Geschäftsschließungen) überhaupt greifen konnten. Laut epidemiologischem Bulletin 17/20 des RKI sank auch die Reproduktionszahl R von etwa 3 Anfang März auf einen stabilen Wert von 1 ab dem 22. März und stabilisierte sich danach bei 1. Das RK"I schreibt diese Stabilisierung den am 23.3. ergriffenen Maßnahmen (d.h. einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit) zu [7]. Der Rückgang von R bereits vor dem "Lockdown", der freilich am 23.3. noch nicht bekannt war, da R nur retrospektiv berechnet werden kann, wird auf das Verbot von Großveranstaltungen und Verhaltensänderungen der Bevölkerung zurückgeführt [7].", weist das EbM-Netzwerk auf zeitlich Zusammenhänge im Rahmen der Corona-Maßnahmen hin.

Nutzen und Schaden von Interventionen
"In jedem Fall sind dringend entsprechende randomisierte kontrollierte Studien zu fordern, um dort, wo es möglich ist, die Wissenslücken zu schließen und herauszufinden, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll und nützlich sind, aber auch um sicherzustellen, dass die politisch angeordneten Maßnahmen nicht möglicherweise mehr schaden als nutzen (allein dadurch, dass beispielsweise ineffektive Maßnahmen eingehalten und die wirklich wirksamen missachtet werden). Bezüglich aller diskutierten oder derzeit eingesetzten Maßnahmen des Social Distancing und des epidemiologischen Geschehens fordern wir eine angemessene, verständliche und den Bezug zur Bevölkerungszahl herstellende Risikokommunikation und verweisen hier auf unsere diesbezügliche Stellungnahme [24].", erklärt das EbM-Netzwerk auch angesichts von Schul- und Geschäftsschließungen.

Entwicklung von Impfstoffen
"Derzeit wird intensiv an der Entwicklung eines Impfstoffs zur Prävention einer SARS-CoV-2-Infektion geforscht. Wir haben die Sorge, dass die üblichen Nachweise von Wirksamkeit und Sicherheit eines Impfstoffes zugunsten einer beschleunigten Bereitstellung einer Impfung aufgeweicht werden könnten. Laut Deutschem Ärzteblatt befindet sich bereits ein erster Impfstoffkandidat in einer Phase-III -Studie [34] und soll eventuell schon Ende des Jahres zur Verfügung stehen. Ob eine Phase-III -Studie von nur vier- bis sechsmonatiger Dauer ausreichend ist, um Sicherheit und Effektivität des Impfstoffs nachzuweisen, mag allerdings kritisch hinterfragt werden.", äußert sich das EbM-Netzwerk zu möglichen Impfstoffen.

Nutzen/Schadenabwägung
"Für die indirekten Schäden der Pandemie gibt es noch wenig Studienevidenz. Die Schäden durch die Pandemie und die ergriffenen Gegenmaßnahmen müssen jedenfalls ebenso bedacht werden, und nicht nur die COVID-Todesfallrate. Die Umwidmung von Ressourcen im Gesundheitswesen und die Bereithaltung von Krankenhaus- und Intensivbetten für eventuelle COVID-Patienten, die dann gar nicht gebraucht wurden, hat wahrscheinlich zu Versorgungsengpässen und -lücken im übrigen Gesundheitsbereich geführt, vielleicht aber auch zu einem Abbau von Überversorgung. Die Behandlung von Patienten mit akutem Herzinfarkt ist um bis zu 40 Prozent gesunken [35, 36] und die Behandlung erfolgte verzögert, was zu längeren Ischämiezeiten bei Koronarpatienten führte [37]. Noch ist unklar, welche Auswirkungen die Reduktion der stationären Versorgung auf Morbidität und Mortalität der Bevölkerung haben wird. Hier sind umfangreiche Studien erforderlich, die erst im weiteren Verlauf Nutzen und Schaden aufklären können.", fordert das EbM-Netzwerk eine ergebnisoffene Nutzen/Schadenabwägung der durch Lockdown und andere Eindämmungsmaßnahmen entstandenen Schäden.

Da die Stellungsnahme des EbM-Netzwerk gerade bei den Befürwortern der Corona-Maßnahmen nicht ganz unumstritten ist, hat die von Montag bis Freitag täglich erscheinende Ärztezeitung ein recht ausgewogenes "EvidenzUpdate"-Podcast veröffentlicht. Diesen finden Sie hier: https://www.aerztezeitung.de/Podcasts/EbM-Netzwerk-wegen-Corona-im-Kreuzfeuer-berechtigt-oder-nicht-413195.html

Literatur
5. Bundesamt für Gesundheit. Epidemiologische Zwischenbilanz zum neuen Coronavirus in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein [Internet]. [zitiert 2020 Aug 31]. Verfügbar unter: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/k-und-i/aktuelle-ausbrueche-pandemien/2019-nCoV/covid-19-zwischenbilanz-mai-2020.pdf.download.pdf/BAG_Epidemiologische_Zwischenbilanz_zum_neuen_Coronavirus.pdf
6. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. Amtliches Dashboard COVID19 - öffentlich zugängliche Informationen [Internet]. 2020 [zitiert 2020 Aug 31]. Verfügbar unter: https://info.gesundheitsministerium.at/
7. An Der Heiden M, Hamouda O. Schätzung der aktuellen Entwicklung der SARS-CoV-2- Epidemie in Deutschland – Nowcasting. 2020 [zitiert 2020 Sep 2]. Verfügbar unter: https://edoc.rki.de/handle/176904/6650
24. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Risikokommunikation zu COVID-19 in den Medien [Internet]. 2020 [zitiert 2020 Aug 31]. Verfügbar unter: https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-risikokommunikation-covid19-20200820.pdf
34. Deutsches Ärzteblatt. SAS-CoV-2_ Erster Impfstoff in Pase-III-Studie [Internet]. 2020 [zitiert 2020 Aug 31]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114365/SARS-COV-2 -Erster-Impfstoff-in-Phase-III-Studie
35. Garcia S, Albaghdadi MS, Meraj PM, Schmidt C, Garberich R, Jaffer FA, u. a. Reduction in ST-Segment Elevation Cardiac Catheterization Laboratory Activations in the United States during COVID-19 Pandemic. J. Am. Coll. Cardiol. 2020;S0735109720349135.
36. Slagman A, Behringer W, Greiner F, Klein M, Weissmann D, Erdmann B, u. a. Medical Emergencies During the COVID-19 Pandemic An Analysis of Emergency Department Data in Germany. Dtsch. Ärztebl. Int. 2020;117:545–52.
37. Reinstadler SJ, Reindl M, Lechner I, Holzknecht M, Tiller C, Roithinger FX, u. a. Effect of the COVID-19 Pandemic on Treatment Delays in Patients with ST-Segment Elevation Myocardial Infarction. J. Clin. Med. 2020;9:2183.

Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

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