Rollenspiel Rollstuhl - Eine Erlebnisfahrt der anderen Art

Rollenspiel Rollstuhl – Eine Erlebnisfahrt der anderen Art (März 2012)

Bevor jemand befürchtet, ich hätte mir wieder den Fuß gebrochen: Meinem Fuß geht es gut. Viele andere Menschen haben es nicht so gut wie ich, denn sie sind auf einen Rollstuhl angewiesen, manche ohne, manche mit Begleitung. Als gesunder Mensch macht man sich selten Gedanken darüber, welche Alltagshürden es zu überwinden gilt. Scheinbar machen sich manche Ingenieure, Architekten, Stadtplaner und sonstige Personen vom Typ „jung, dynamisch, aufstrebsam und gehfähig“ diese Gedanken entweder nur aus Gründen der sozialen Gewissensberuhigung, nach dem Feierabend-Drink oder gar nicht. Da ich zwar relativ jung, sehr dynamisch und vor allem an meinen Mitmenschen interessiert bin, habe ich mich für einen Vormittag als Leiterin einer Schulungsgruppe in die Position eines Rollstuhlfahrers mit Begleitung begeben. Ziel der Schulung war es, den Umgang mit dem Rollstuhl zu erlernen und auch selbst im Ansatz zu spüren und fühlen, wie ein Leben im Rollstuhl sein kann.

Kaum hatten wir in einer Gruppe von 9 Personen mit 3 Rollstühlen die Fahrt begonnen, stellten wir fest, dass Bordsteine unterschiedlich gefährlich sein können. Glücklicherweise gibt es Absenkungen, die man zunächst suchen muss, da sie nicht markiert sind. Unter den befremdlichen Blicken einiger Passanten schoben und rollten wir durch das Herz des Essener Nordens. Gegenüber der alten Badeanstalt ging es in den Supermarkt. Es ist gar nicht so einfach zu überblicken, was sich in den Tiefkühltruhen befindet! Eine Glastür zu öffnen, um an die Grillwurst zu kommen, ist noch schwieriger, schließlich sitzt man ja genau vor der zu öffnenden Tür und kann nicht man eben einen Schritt zur Seite gehen.
Möglicherweise glauben Regalplaner, dass Rollstuhlfahrer Vegetarier sind. Eine freundliche und hilfsbereite Kassiererin machte diesen Einkauf dennoch recht angenehm.
Das ist in dem Warenhaus gegenüber schon etwas anders. Damals, als noch ein großes, weißes Pferd aus Plastik für ein paar Pfennige vor dem Eingang von mir über Stock und Stein geritten wurde, ist mir das Kopfsteinpflaster in der Einfahrt davor gar nicht aufgefallen. Jetzt wird es zur gefährlichen Rüttelpiste, die mein Gleichgewicht und die Kraft meiner Schiebebegleitung stark ins Wanken und meine Brille ins Rutschen bringt. Einmal in den Rillen der sich bedrohlich wölbenden Steine verhakt geht es weder vor noch zurück.
Ein eiliger Mitbürger rempelt uns fast um und hechtet grimmig an uns vorbei, andere schauen mitleidig. Hilfe bietet uns niemand an. Ich komme mir blöd vor, meine Begleitung schwitzt und ruft: „Wir sind eine Schulungsgruppe, wir üben das noch!“. „Das sollten sie auch.“, sagt jemand - Frechheit!

Dennoch geht es bei strahlendem Sonnenschein weiter zum Eingang, an dem schon das nächste Problem wartet: Die Türen stehen nicht offen. Nach einigem Rangieren können wir hinein. Gleich rechts leuchtet die neue Frühjahrsmode, die ich mir aber auch bei aufrechtem Gang nur anschauen könnte, wenn ich selbst Kleidergröße 36 hätte, da die Ständer wie Bockwürstchen im Glas eng beieinander stehen. Beim Aussuchen von Socken aus den so beliebten Grabbelkörben bekommt meine Begleitung fast selbst einen Hexenschuss beim Hinüberbeugen, um die für mich unerreichbaren, einzigen Paar beigen Strümpfe in der passenden Größe aus den unendlichen Tiefen und Weiten der Gitterkörbe zu angeln. Meinem Mann möchte ich auch etwas von meinem Einkaufsbummel mitbringen, nur ist der Kauf von modisch oliv-grünen Boxershorts für Rollstuhlfahrer scheinbar nicht vorgesehen, denn auch diese sind zunächst gar nicht für mich sichtbar und ich muss meine Begleitung bitten, für mich in der zukünftigen Unterwäsche meines Gatten zu kramen. Gut, dass ich ihm keine String-Tangas mitbringen wollte, das wäre jetzt echt peinlich! Frustriert greife ich nach der guten, alten Doppelripp, die in behindertengerechter Greifweite liegt, lasse sie dann aber des Ehefriedens wegen doch besser liegen.

Weiter geht’s am Marktplatz halb vorbei. Meine Güte, der ganze Platz besteht scheinbar nur aus Treppen! Rechts vorbeigefahren passieren wir einen rasanten Parcours aus Topfpflanzen, die ein eifriger Blumenhändler ganz gewitzt gleich hinter und zwischen den Durchfahrtssperren drapiert hat, sodass weder Kinderwagen noch Rollstuhl auch nur den Hauch einer Chance hätten, diesen Slalom fehlerfrei zu absolvieren.

In der Eingangspassage zum Allee-Center kommt mir die Idee, ein Passfoto zu machen, doch statt einem Passfoto müssen wir passen: Kabine zu klein, Sitz nicht wegklappbar. Selbst wenn der Sitz klappbar wäre, lässt sich der Rollstuhl nicht höhenverstellen, und ein Foto nur von meinem Scheitel inklusive zorngerunzelter Stirn macht wenig Sinn. Nun gut, dann kann ich am Automaten nebenan wenigsten Geld abheben. Vorausgesetzt, ich fahre seitwärts heran, verknote den Arm und verdrehe mir den Hals, da beim vorwärts-Heranfahren meine Beine den Abstand zum Automaten doch irgendwie vergrößern und schlecht mit meiner Armlänge harmonieren.

Nach einigen stillen Gedanken über die Anatomie gleiten wir über den Boden des Centers. Unruhig stelle ich fest, dass ich ein menschliches Bedürfnis habe. Wir suchen nach einem Hinweis in Richtung Toilette, finden auch nach einiger Zeit Umherblicken ein Schild, auf dem steht: “Beh.WC“ – was ist ein behwc? -, allerdings ohne das typische Rollstuhlzeichen, weswegen wir das Schild zunächst gar nicht wahrgenommen haben Dort angekommen stellen wir fest, dass die Tür verschlossen ist und man sich den Schlüssel im 1.OG. abholen kann. Meine Blase beginnt schon, zu nörgeln.
Glücklicher Weise sind die Fahrstühle gleich nebenan. Natürlich dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis der Fahrstuhl kommt. Durch die Umbaumaßnahmen versperrt ein Handwerker mit einer Leiter den Weg, was zu zusätzlichen Strafsekunden führt. Die Tür zum Service-Center öffnet sich nicht – da hat einer der bereits zu Beginn erwähnten Planer entweder vergessen, die Automatik einzubauen oder nicht daran gedacht, dass Menschen im Rollstuhl (oder mit Kinderwagen, Rollator etc.) eine Tür schlecht „zu sich hin“ öffnen können. Vielleicht fehlte aber auch schlicht das Geld, was man lieber für einen extrem hohen, schneeweißen Service-Tresen ausgegeben hatte, vor dem ich dann mit der Nase saß. Um dann von der Mitarbeiterin gesehen zu werden, müsste man sich eine leuchtende Zipfelmütze aufsetzen, die ja auch ein hübsches give-away für Rollstuhlfahrer zur Neueröffnung der neuen Gewerbeflächen sein könnte. Falls sie in Zukunft also Rollstuhlfahrer mit leuchtenden Zipfelmützen im Allee-Center sehen, wurde diese Idee von mir umgesetzt.
Ein Drittel Höhe des Tresens eingespart und stattdessen einen kleinen Glasschutz mit Abstand zur Thekenfläche aufgesetzt – Problem gelöst. Das spart Zipfelmützen und wäre nicht nur kinder- und kundenfreundlicher, sondern auch schicker und würde auch plastisch Transparenz demonstrieren. Statt dessen demonstrieren wir nun, weil die Dame gerade weiter hinten im Raum telefoniert und auch noch eine Kundin einen Gutschein einlösen will; von dem nervösen Paketfahrer, der nur auf eine Unterschrift wartet, mal ganz zu schweigen. Wäre ich jetzt in echten Nöten und auf den Schlüssel des „Beh.WC‘s“ angewiesen, gäbe es hier gleich ein Malheur! Hätten wir als „echte“ Rollstuhlfahrer den Schlüssel geholt, die Toilette besucht und den Schlüssel durch alle Fahrstühle, Leitern und unautomatischen Türen auch artig wieder zurückgebracht, wäre das Mittagessen schon vorbei. Rollstuhlfahrer scheinen ja auch alle Zeit der Welt zu haben. Die Mitarbeiterin war aber sehr verständnisvoll und freundlich. Sie hat uns versichert, dass sie unsere Kritik weiterleiten würde. Danke!

Nach dem ganzen Stress hatt ich mir ein Eis verdient. Problemlos konnten wir die Eissorten auswählen. Allerdings schleicht sich die Vermutung bei mir ein, dass die gut arrangierte Ware eher aus dem Grunde der verkaufsfördernden Wirkung in Bezug auf Kinder so dargeboten und weniger an Rollstuhlfahrer gedacht wurde. Toll: Mit einem Lächeln wurde uns das Eis herumgebracht.

Unser nächster Weg führt uns in einen Handyladen. Auch hier wieder: Extrem hohe Theken und Tische. Aus meiner sitzenden Position war es mir nicht möglich, Informationsbroschüren einzusehen, geschweige denn I-Pads oder andere Tablets. Ein sehr junger Verkäufer kam zögerlich auf uns zu und meinte, nachdem wir das angemerkt hatten, dass die Prospekte ja auch im Prospektständer stünden. Ja, super, aber das Produkt konnte ich nicht ansehen, da es für mich über Kopfhöhe war. Der Preis ebenfalls.
Wäre der Verkäufer jetzt mit einem anderen Kunden beschäftigt gewesen, hätte ich ziemlich dumm da gesessen oder wäre – wie so oft heute – auf meine Begleitung angewiesen. Von eigenständig keine Rede. Außerdem hat er uns darüber aufgeklärt, dass Menschen im Rollstuhl ja eh meist älter sind und sich keine modernen Tablets kaufen würden. Aha. Auf diesem Wege wünschen wir diesem Verkäufer Hals- und Beinbruch - privat und beruflich, mit freundlichem Gruß.

Die nächste Station war der mir aus meiner Jugend bekannte nette Deko- Laden. Den ließen wir aber lieber ausfallen aus Sorge, dass wir eventuell umgefahrene Ware, die die Wege versperrt oder sonstige Schäden, die beim Rangieren entstehen würden, ersetzen müssen.
Mittlerweile war ich ziemlich genervt, da ich das Gefühl hatte, ständig begafft zu werden. Anstatt der Schilder „Rollstuhl-Training“, mit denen wir uns ausgestattet hatten, wollte ich mir schon ein Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht füttern“ anfertigen. Das ein oder andere Mal lag mir auch ein bissiges „Ey, was guckst Du?!“ auf der Zunge.
Wirklich bedenklich war die Äußerung eines Mitbürgers, wieso wir gerade hier üben und was das eigentlich soll. Tja…anstatt froh zu sein, falls er irgendwann einmal auf einen Rollstuhl angewiesen sein sollte, von Menschen begleitet zu werden, die mit dem Handling vertraut sind, noch rummeckern. Vielleicht wird er ja von einer ungeübten Helferin oder einem Begleiter vorwärts den Bordstein heruntergeschoben. Nicht, dass ich ihm das wünsche; dieser Gedanke schlich sich hinterrücks und unbeabsichtigt bei mir ein.

Ach, jetzt hatte ich ganz vergessen, einen Lottoschein zu machen. Da ich aber sowieso weder an die Lottoscheine gut heran kam, noch die Schreibunterlage nutzen konnte, schrieb ich statt eines Lottoscheins die Millionen in den Wind. Hätte ich sie gewonnen, gäbe es keinen arbeitslosen Schreiner und Metallbauer mehr, da ich diese alle beauftragen würde, Theken, Tresen und Tische weltweit abzusägen!
Da ich schon mal da war, konnte ich gleich auch ein paar Kopien machen. Mittlerweile kann das ja jedes Kind. Da ich das Display nicht sehen konnte, weil es sich, wie so viele andere Dinge auch, ziemlich weit oben befindet, bat ich um Hilfe. „Ich möchte diese 5 Seiten bitte jeweils 8-mal kopieren. Kann ich die alle zusammen einlegen?“. “Nein, da müssen sie jedes Blatt einzeln machen.“ Sprach’s und entschwand. Nun ja, das wäre jetzt ziemlich umständlich, da ich keinen Platz hatte, um irgendetwas abzulegen. Mal davon abgesehen, dass ich jedes Mal den Deckel hätte anheben müssen, an den ich aber gar nicht richtig heran kam. Nun weiß ich ja, dass man in diese Art Kopierer natürlich mehrere Blätter einlegen kann, bin mir aber nicht sicher, dass jeder das weiß. Nicht nur für ältere Menschen erschließt sich bei bloßem Anblick eines Geräts gleich die Funktion mit allen Varianten. Statt mir zu helfen, wurden wieder fleißig Zigaretten einsortiert und wieder einmal merkte ich, wie mein Blutdruck in den ungesunden Bereich abdriftete.

Nach diesem unerfreulichen Erlebnis versuchte ich mein Glück bezüglich Telefonie in einem anderen Geschäft. Ein wenig eng, aber dennoch waren alle Prospekte und Artikel in Sicht – und Greifweite. Da zahlt man gerne auch mal 5 Euro mehr, denn der Service stimmte auch.

Draußen lockte schon die Sonne; diese riesige Drehtür machte schon ein wenig Angst, da es so aussah, als würde sie sich recht schnell drehen. Es klappte aber alles prima. Meine Sorge, hilflos mit Rollstuhl eingeklemmt zu werden und am nächsten Tag in Farbe als Seite-1-Mädchen der anderen Art die Titelseite einer Tageszeitung zu zieren, war völlig unbegründet.

Auf einen Abschluss-Hamburger bei Frühlingswetter haben wir dann auch verzichtet, da sich die Rollstühle nicht unter die Tische draußen schieben lassen, da diese mit den Bänken eine rollstuhlunfreundliche Einheit bilden. So hätte ich einmal mehr das Gefühl gehabt, nur „außen vor“ zu sein.
Trotzdem schön, dass man endlich mitten in Altenessen auch einen anderen Ort als den Biergarten am Karlsplatz hat, an dem man draußen sitzen kann. Der ist für Rollstuhlfahrer und auch für Personen mit Rollator nämlich gänzlich schwierig zu befahren, wenn man nicht gerade auf Cross-Erlebnisse abfährt.
Nach drei Stunden im Rollstuhl hatte ich selbst etwas Rückenschmerzen, meine Begleitung wahrscheinlich 3 Tage Muskelkater und Schwielen an den Händen.

Auf diesem Wege möchte ich mich bei allen Passanten entschuldigen, denen wir aus Versehen in die Hacken gefahren sind oder die wegen unserer Gruppe länger auf die Fahrstühle warten mussten. Ebenso vielen Dank an meine „Schüler“-Gruppe, von denen einige gesagt haben, dass sie plötzlich vieles mit ganz anderen Augen sehen. Ein großes Dankeschön an die vielen netten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Geschäften, die Serviceabteilung des Allee-Centers, an die rücksichtsvollen Autofahrer und interessierten Mitbürger, mit denen wir einige, kurze Gespräche geführt haben!
Zu allen anderen möchte ich sagen: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte bedenken, dass drei Finger stets in die eigene Richtung weisen! Toleranz und Achtung beginnt immer bei jedem selbst. Vielleicht trägt dieser Bericht ein wenig dazu bei, dass aus Mitleid oder gar Missachtung eher ein Miteinander wird.

Meinen allergrößten Respekt an alle Rollstuhlfahrer und Begleiter, die sich trotz aller Schwierigkeiten lächelnd durch die Welt kämpfen! Für uns waren es nur ein paar Stunden, für sie ist es Alltag.

Autor:

Simone (Mone) Stodiek aus Essen-Nord

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