Mein Geheimnis

Kopstadtplatz Essen
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Während ich das Eingangsportal betrat, ahnte ich schon, dass hier etwas Merkwürdiges im Gange ist. Als ich spät am Abend in meinem Bett lag, genoss ich die wohltuende Müdigkeit, aber die Reise sollte ja jetzt erst richtig los gehen. Irgendetwas schien an meinem Bett zu ruckeln. Es fühlte sich an, als würde ich über altes Kopfsteinpflaster fahren. Mein Hier und Jetzt verschwamm in einem Nebel. Ich fühlte mich aufgehoben und willkommen.

Ein alter Mann reichte mir eine uralte Limonadenflasche und ich stopfte ein Stückchen Vergangenheit und eine Portion Gegenwart in den Flaschenhals. Ich verschloss die Flasche und begann, diese zu schütteln. Liebesperlen wirbelten umher, der Geruch von Zuckerwatte durchströmte meine Nase. Dann platze eine Liebesperle nach der anderen, ein faszinierendes Spiel kleiner farbenfroher Wolken folgte und die Flasche öffnete sich wie von Geisterhand. Eine Kutsche bahnte sich, immer größer werdend, ihren Weg neben mein Bett. „Einsteigen.“ sagte der alte Mann und wir flogen los.

Ich saß auf dem Kutschbock und staunte über die Menschen am Flugwegesrand. Rauf- und Trunkenbolde hier, Tänzerinnen dort, dann eine Gruppe Viehhändler und später ein sehr kleiner Mensch, der Grimassen schnitt. Wir machten eine Pause und kehrten in ein Gasthaus ein. Dort debattierten Männer lautstark über die Verleihung von Marktrechten. „Der Wohlstand der Bürger wird sich mehren, meine Dame“ sagte einer der Männer zu mir und küsste mir die Wange. Er stank fürchterlich, aber das machte mir nichts aus, denn ich konnte gleichwohl auch seine Freude riechen und dieser Duft betörte.

Wir flogen weiter und unaufhörlich winkten mir Menschen zu. Einmal war es Joachim Ringelnatz, dann eine Äbtissin, sogar ein König grüßte. Clowns ritten auf Schweinen und ein kleiner Junge mit einer sehr dicken Wange schaute einem Künstler zu, der mit zwei schwarzen Backenzähnen und rostigem Werkzeug jonglierte. Und immer wieder fuhren Fahrräder und alte Karren ein Stück mit uns.

Wir machten einen zweiten Zwischenstopp und eine Frau mit einer Glaskugel sprach zu mir: „Fürchte dich nicht vor deinem aufrührerischen Geist, sei redlich, liebe die Menschen. Sieh die Welt als kurioses Varieté an und lass die Menschheit in den Spiegel schauen.“

Hinter mir hatten sich bewaffnete Männer aufgestellt. Fünf Schützen zielten auf mich und zeigten mir dann durch die Bewegungen ihrer Waffen, dass ich vor einen Zerrspiegel treten soll. Ich gehorchte und ging mal lachend, mal weinend die Spiegel ab. Am Ende des Zerrspiegels stand der alte Mann. In der Hand hielt er ein Glas mit meinen Tränen. Er schüttete die salzige Flüssigkeit unter eine Schiffschaukel, lächelte und sprach „Schön, jetzt hast du deine Seele geduscht. Wir können weiter fliegen.“

Auf unserem Reiseweg wurden wir fortwährend von Musik begleitet. Viele Melodien waren mir bekannt und die Töne legten sich wie Balsam auf meine Seele. Wenn ich alleine im Inneren der Kutsche saß, tauchte aus dem Nichts immer wieder die Puppe eines Bauchredners auf und wusch mir den Kopf. „Festhalten, jetzt nehmen wir Fahrt auf“ rief die Puppe blitzartig und dann schossen wir durch schwach beleuchtete Tunnel eines Bergwerkes, in dessen Schächte sich Wissenschaften, Religionen, Künste, Kulturen, Techniken und zahlreiches Handwerk präsentierten. Ich sah die Chirurgie und die Knochenbrecherei, die Medizin und die Quacksalberei, die Politik, die Philosophie und so viel mehr. Auf der untersten Sohle angekommen, konnte ich für drei Sekunden ins Universum schauen.

Der alte Mann öffnete eine Flasche Sekt. „Ich spüre, du magst das Kribbeln.“ sagte er, „Bevor wir zurück kehren, zeige ich dir noch ein Fleckchen Erde, das du hegen und pflegen sollst.“

Es fühlte sich völlig normal an, als ich kurzerhand auf dem Kopstadtplatz in Essen stand. Es war das Jahr 1930 und ich traf einige Vorfahren, die mich für eine Weile mit ins Jahr 1905 nahmen. Sie erzählten mir viele Geheimnisse, von denen ich euch vielleicht demnächst berichten werde, aber fürs Erste schließe ich den Vorhang und lege mich ins Bett. Ich will Kraft tanken für das Hegen und Pflegen. Und ich meine, in der Ferne eine Kutsche zu hören…

Allen Lesern, die hier angekommen sind, möchte ich ein kleines Tor öffnen.
Wenn Du neugierig bist, geh hinein. Du wirst dich aufgehoben und willkommen fühlen.
TOR

Autor:

Susanne Demmer aus Essen-Nord

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