Großfamilie: Lassen Eltern ihre Kinder verwahrlosen?

Frank Waab, Direktor des Hattinger Amtsgerichtes und Vorsitzender Richter beim Jugendschöffengericht
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Dieser Indizienprozess wird eine schwierige Sache. Das sagt der Vorsitzende Richter Frank Waab gleich zu Beginn. Angeklagt sind eine 33jährige Frau und ihr Lebenspartner wegen Verwahrlosung von Erziehungsberechtigten. Das Jugendschöffengericht hat dabei in seiner Eigenschaft als Jugendschutzgericht eine Entscheidung zu treffen.

Die beiden Erwachsenen, Hartz IV-Empfänger, leben mit acht ihrer zehn Kinder zusammen. Die polizeilichen Ermittlungen gegen die seit 2004 beim Jugendamt bekannte Familie wurden im Mai letzten Jahres aufgenommen, nachdem ein damals zwölfjähriges Mädchen vom Balkon der Wohnung fiel, weil sie ihren Haarreif festhalten wollte.
Im Krankenhaus stellte man neben den Verletzungen vom Unfall auch Anzeichen für eine mögliche Verwahrlosung und weitere Entwicklungsverzögerungen fest.
Die riefen die Polizei auf den Plan, die in eine Wohnung kam, die kaum durch die Anklage beschrieben werden kann: Nur das Wohnzimmer erwies sich als einigermaßen sauber und aufgeräumt. Alle anderen Räume seien unglaublich verdreckt gewesen, die sanitären Anlagen ebenso. Müll habe herumgelegen, teilweise Schimmel. Die Kinder hätten auf verdreckten Matratzen ohne Bettbezug schlafen müssen.
Eine Vertreterin des Hattinger Jugendamtes erklärte, die Familie sei seit 2004 bekannt. Verschiedene Maßnahmen seien seit dieser Zeit durchgeführt worden – unter anderem Inobhutnahme, Dauerpflege, aber auch viele ambulante Hilfsmaßnahmen. Immer wieder käme es zu Schwierigkeiten, weil die Erwachsenen einzelne Maßnahmen des Jugendamtes ständig kommentierten und diskutierten und immer wieder neue Absprachen getroffen werden müssten. Seit Juni 2014 käme zweimal in der Woche eine Familienhelferin, die die Sauberkeit der Wohnung und einen ordentlich gefüllten Kühlschrank begutachte – hier gäbe es keine Klagen.

Stress mit dem Hattinger Jugendamt

Auch die beiden Angeklagten erklärten vor Gericht, sie hätten damals einfach nach einem Kindergeburtstag nicht sauber gemacht und seien sich des Fehlverhaltens bewusst. Es käme nicht mehr vor und sie kümmerten sich um ihre Kinder.
Das Jugendamt zeigt Skepsis. „Schon 2004 gab es eine Kindeswohlgefährdung, damals allerdings bezogen auf den früheren Ehemann der Angeklagten und sein aggressives Verhalten“, so die Mitarbeiterin des Jugendamtes.
Schon einmal wurden einige der Kinder aus der Familie genommen, sind aber bis auf eines alle zurückgekehrt. Im Dezember letzten Jahres habe man erneut einen Antrag gestellt, die Kinder aus der Familie zu nehmen. Für ein Kind, das nicht mehr in der Familie lebt, hat das Jugendamt den Eltern vorläufig das Sorgerecht entzogen und einen Vormund eingesetzt. Das Familiengericht lehnt den Antrag des Jugendamtes ab, erteilt allerdings entsprechende Auflagen. Auch Gutachten zur Entwicklung der Kinder gibt es bereits.
Das Familiengericht möchte erreichen, dass zusammen mit helfenden Personen und Institutionen für jedes Kind eine individuelle Förderung erarbeitet und umgesetzt wird und setzt dabei auf die Beteiligung der Eltern.
Das tut schließlich auch das Jugendschöffengericht. Der Vorsitzende Richter Frank Waab erklärt, man tue sich bei einem Indizienprozess sehr schwer, Verwahrlosung nachzuweisen. Außerdem habe man das Problem, bei einem Nachweis zu entscheiden, wie es dann weitergehe. „Müssen die Kinder dann für einen bestimmten Zeitraum aus der Familie genommen werden? Müssen die Geschwister getrennt werden? Soll eine Geldstrafe verhängt werden, die bei der finanziellen Lage der Familie die Haushaltskasse schmälert? Oder soll eine Freiheitsstrafe verhängt werden? Mit Bewährung wäre sie an Auflagen geknüpft, die bei Nichterfüllung ebenso wie eine Strafe ohne Bewährung zu einem Gefängnisaufenthalt führen könnte und somit den Erwachsenen der Familie entzieht. Ich bin aber der Auffassung, das Wohl der Kinder muss im Mittelpunkt stehen und nicht die Bestrafung der Eltern. Es muss alles an Hilfen geboten werden, damit die Eltern in die Lage versetzt werden, ihre Kinder zu erziehen.“
Die Angeklagten beschweren sich übrigens bei Gericht darüber, dass sie selbst als Eltern vom Jugendamt keine Hilfe erhielten, obwohl sie darum gebeten hätten. „Alle wollen immer nur, dass wir gemeinsam mit den Kindern als Familie Therapie machen. Die Kinder haben immer wieder neue Menschen kennengelernt, die irgendetwas von ihnen wollen. Wir würden uns wünschen, dass man mal uns als Erwachsenen Hilfe anbietet und nicht nur zweimal in der Woche einen Familienhelfer schickt, der für jeweils zehn Minuten den Zustand von Wohnung und Kühlschrank beguckt und dann wieder weg ist.“
Das Jugendschöffengericht setzt den Strafprozess für sechs Monate aus mit der Maßgabe, die Auflagen aus dem familienrechtlichen Verfahren zu erfüllen. Damit möchte man den Druck auf die Eltern erhöhen. Erfüllen sie die Auflagen nicht, kommen die Kinder aus der Familie und der Indizienprozess wird wieder aufgenommen.

Frank Waab, Direktor des Hattinger Amtsgerichtes und Vorsitzender Richter beim Jugendschöffengericht
Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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