Krankenhausaufenthalt: Erfahrungen
So war es und so ist es - Im Krankenhaus

Lizenzfreies Stockfoto von Renato Mu Satoshi

Achtundzwanzig Jahre schon lebe ich in Deutschland und muss zugeben, ich vergleiche immer noch – dieses Land mit dem anderen, den ersten Teil meines Lebens mit dem zweiten. Das geschieht ohne mein Zutun, die Gedanken sind einfach da – beim Einkaufen, beim Bus- oder Zugfahren, bei alltäglichen Erledigungen. Ich finde die Unterschiede stets aufs Neue erschreckend und bedrückend, besonders im Bereich der medizinischen Versorgung.

So war es in Russland

Die Erinnerungen führen mich zurück zu meinem ersten Krankenhaus-Aufenthalt überhaupt – zum Oktober 1972. Ich war achtzehn Jahre alt.
Aus dem Buch „In der sibirischen Kälte“:

… Wie soll ich das erklären? Eigentlich hätten es doch die schönsten Tage in meinem Leben sein müssen: Ich hatte ein Kind geboren – meinen kostbarsten Schatz; ich hatte viel Zeit für den kleinen Aljoscha, sicherlich mehr als zu Hause.
Leider war es anders gelaufen!
Nach der Entbindung wurde mir der schreiende Winzling nur flüchtig gezeigt. Erst am dritten Tag brachte man ihn mir zum Stillen und zum Kennenlernen. Angeblich hatte er Neugeborenen-Gelbsucht. Ich will gar nicht beschreiben, wie es mir in diesen drei Tagen erging, das kann man sich gewiss vorstellen. Aber ich wusste nicht, wie es dem Kleinen ging!
Auch in den darauffolgenden Tagen war es nicht viel besser. Die meiste Zeit verbrachten die Säuglinge im Säuglingsraum – von den Müttern getrennt. Zu alledem fühlte ich mich gefangen, eingesperrt, gefesselt. Nicht einmal die Freude an dem Kleinen konnte dieses Gefühl mildern. Damals war es ja die Regel, dass man in der Entbindungs-Station keinen Besuch empfangen durfte und ebenso durfte man die Station nicht verlassen. Sogar die eigene Kleidung zu tragen war nicht erlaubt. Ich hatte mit meinem Mann nur Blickkontakt aus dem Fenster des dritten Stockes. Dadurch war eine Unterhaltung unmöglich und wie sollte ich ihm meine Verzweiflung mitteilen? Er hätte meinen Zustand wahrscheinlich auch nicht erfasst, denn keiner von uns beiden ahnte damals, dass ich unter Depressionen litt. Diese Diagnose erhielt ich erst zehn Jahre später. Aber schon damals erkannte ich, dass das Schlimmste, was man mir antun konnte, der Freiheitsentzug war. Allein das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden, reichte und reicht noch immer für eine Panikattacke aus.

Diesem ersten Aufenthalt folgten in unterschiedlichen Abständen viele andere, darunter auch zwei von der ganz schlimmen Sorte. Nachstehend noch ein Ausschnitt aus meinem Buch oder vielleicht besser gesagt - aus der schmerzhaftesten Erinnerung meines Lebens.

… Es war schon weit über Mitternacht, als ich mich endlich auf dem mir zugewiesenen Bett niederlassen durfte … im Korridor. Man gab vor, alle Zimmer seien belegt. Damals glaubte ich es oder akzeptierte es einfach. (Was hätte ich auch dagegen tun können?). Heute denke ich über die Sache anders.
Der Flur war lang und dunkel; auch bei Tageslicht wurde es dort nicht viel heller. Unweit von meinem Bett befand sich das Behandlungszimmer und man kann sich leicht vorstellen, wie unruhig es um mich herum war. In meinem Inneren sah es keineswegs besser aus – da herrschte Chaos.
Ich lag unter der Decke, mit dem Gesicht zur Wand und versuchte, alles zu mobilisieren, was ich an Kraft und Vernunft besaß, um mich zu beruhigen. Viel Macht besaß ich über meinen psychischen Zustand nicht, im Grunde gar keine. Irgendwann schlief ich dann doch ein, um schon im nächsten Moment – so kam es mir vor – wieder aufzuschrecken. Irgendetwas hat mich geweckt …
Ich setzte mich auf.
Am Ende des Flurs fiel durch das hohe Fenster graues Licht ein – der Tag brach an. Eine Schwester eilte an mir vorbei und als ihre Schritte verhallt waren, hörte ich es – ein leises Wimmern. Weinte irgendwo ein Kind? Das Wimmern – gleichmäßig, fortwährend – hörte sich nicht menschlich an. Ein Kätzchen? Aber in einem Krankenhaus?
Ich stand auf und sah mich um. Erst jetzt entdeckte ich am Fußende meines Bettes noch ein zweites. Wahrscheinlich hat man es hierher geschoben, während ich schlief. Das Geräusch kam eindeutig von dort. Ich näherte mich dem Gestell und sah darauf ein kleines Bündel liegen. Zwar konnte ich nichts Genaues erkennen, wusste aber schlagartig – das, was da in Tücher eingewickelt war, lebte.
Entsetzen machte sich in mir breit, denn mir war auch sofort klar, dass es sich nicht um ein Neugeborenes handelte. Mit Sicherheit würde man es hier nicht so achtlos abgelegt haben. Was war es dann? Ein Fötus? Ein viel zu früh geborenes menschliches Wesen?
Hilflos stand ich da und lauschte wie versteinert den dünnen, klagenden Lauten. Eine Schwester tauchte aus dem Behandlungszimmer auf und hoffnungsvoll dachte ich: Jetzt klärt sich bestimmt alles auf, aber sie ging an mir vorbei – stumm, gleichgültig.
Als ich erkannte, dass sich das Bündel kaum merklich bewegte, wurde mir schwindlig. Ich ging zurück zu meinem Bett, rollte mich darauf zusammen, zog die Decke über den Kopf und verharrte so, unfähig mich zu bewegen oder auch nur zu denken. Mein Verstand entglitt mir langsam. In die Bewusstlosigkeit? In den Schlaf? Als ich wieder zu mir kam und die Decke vorsichtig zurückschlug, war da nur noch die morgendliche Krankenhaus-Geräuschkulisse. Ich sah zum anderen Bett. Leer. „Entsorgt“, blitzte es in meinem Kopf auf. Ja, man hat es entsorgt, vermutlich einfach in den Abfall geworfen.

Der Albtraum nahm damit leider kein Ende ... Hierzu jedoch nur noch so viel: Mein eigenes Martyrium stand mir an diesem Tag noch bevor ...

Besonders oft war ich im Krankenhaus nach der Geburt meines zweiten Kindes. Da der Kleine schon sehr früh Allergien hatte und oft kaum noch Luft bekam, stand auch häufig ein Krankenwagen vor unserer Haustür. Es ließ sich nicht vermeiden – wollte ich meinem Sohn helfen, musste ich den Notruf wählen und mit ihm ins Krankenhaus fahren. Auch wenn nur von kurzer Dauer – zwei-drei Tage – so war es für mich eine grauenvolle Tortur, denn die Regeln in der Kinderklinik waren im Grunde die gleichen wie im Geburtshaus, und ich war wieder eingesperrt, zusammen mit meinem Kind und zusammen mit meiner Panik. Man stelle sich vor (wenn möglich): Der Tag hat viele Minuten, unendlich viele, und jede Minute trägt eine Ewigkeit in sich. In dieser Ewigkeit lebte ich, fühlte ich … Da war nichts anderes mehr, was das Leben lebenswert machte, da war nur die Qual, die Endlosigkeit, die Gewissheit, dieser Gefangenschaft, diesem Grauen nie mehr entkommen zu können …
Erst viel später, im Alter von etwa sieben Jahren, wurde meinem Sohn die Diagnose „Asthma bronchiale“ gestellt und er bekam ein Spray verschrieben, das ihm in der Atemnot half.

Aber jetzt möchte ich nicht mehr über die Vergangenheit schreiben – das war für mich, ehrlich gesagt, wieder Erinnerung genug.

So ist es in Deutschland

Auch in Deutschland bin ich schon des Öfteren in einem Krankenhaus gewesen, das erste Mal 1997. Obwohl ich mich vor Einrichtungen solcher Art so sehr fürchtete, konnte ich diesmal bloß staunen – die Panik blieb aus. Sie hatte keinen Nährstoff, sie konnte sich an nichts festkrallen! Denn – ich war nicht eingesperrt, man hatte mir nicht entwürdigend meine Kleidung weggenommen, ich konnte den ganzen Tag über Besuch empfangen, ich durfte, sobald es mir möglich war und wann immer ich wollte, aus dem Gebäude in den Park gehen und die Sonne genießen, ich wurde umsorgt und mit Respekt behandelt … Habe ich noch etwas vergessen? … Ich gestehe – nicht nur einmal weinte ich im Stillen, weil mir zum wiederholten Mal vor Augen geführt wurde, wie wertvoll doch ein Menschenleben ist und wie wenig es in meiner früheren, sozialistischen Heimat bedeutet hatte.
Als mein erstes Enkelkind zur Welt kam, konnte ich die noch krasseren Unterschiede sehen – zwischen den Umständen, in denen meine Söhne geboren wurden, und der Atmosphäre einer Entbindungsstation in Deutschland. Dazwischen gibt es keine Brücken!

Ob ich irgendwann mit dem Vergleichen aufhören kann? Ich fürchte, das wird mir nie gelingen.

Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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