Altenessen – Die gestörte Beziehung zwischen Mensch und Raum

Sonnenuntergang am Barbaratag in Altenessen | Foto: Susanne Demmer
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Nicht eine Sekunde habe ich es bereut, nach Altenessen zu ziehen, aber von der ersten Sekunde an spürte ich die Andersheit des Lebens im Norden. Von meiner Geburt an tingelte ich gerne zwischen dem Norden und Süden hin und her, hatte meinen Wohnsitz aber lange Zeit in Rüttenscheid.

Wenn man mich fragte, woher ich komme und ich antwortete „Aus Rüttenscheid“, erntete ich durchgehend positive, manchmal fast anerkennende Reaktionen. „Oh, schön.“ sagten die einen, „Uiii, das ist aber ein teures Pflaster.“ die anderen. Beide Aussagen sind genauso von Oberflächlichkeit und Vorurteilen geprägt wie das düstere Bild mancher Stadtteile nördlich der A40. Ich bin übrigens nicht die Einzige in meinem Bekanntenkreis, die das „gelobte Land Rüttenscheid“, das eigentlich mal als Wohnort bis zum Ende gelten sollte, freiwillig verlassen hat.

Seit ich anfing, die Frage nach meinem Wohnort mit „Altenessen“ zu beantworten, erlebe ich immer wieder dasselbe. Beinahe mitleidig stammelt das Gegenüber „Altenessen hat ja auch schöne Ecken.“. Wenn ich dann selbstbewusst sage „Ich wohne auf der Gladbecker“, klappen die Kinnladen runter. Ich schaue dann in verstummte Gesichter und sehe die Fragezeichen in den Köpfen der Menschen. Dass jemand freiwillig nach Altenessen auf die B 224 zieht, ist für viele Hirne offensichtlich nicht zu verarbeiten. Da bohrt man doch lieber nach anderen Beweggründen und greift zum Gedanken an den „sozialen Abstieg“.

Kurzum: Nach meinem Wohnortwechsel bekam ich einen anderen Stempel. Das machte sich auf diversen Ebenen bemerkbar. Bestimmte hochpreisige Artikel, die ich für eine ältere Verwandte in Rüttenscheid locker über Ebay-Kleinanzeigen verkaufen konnte, wurden in Altenessen plötzlich zum Ladenhüter. Mir liegen eindeutige Beweise vor, dass Schranken in den Köpfen es nicht zulassen, die Begriffe „Prada und Gladbecker Straße“ oder „Haute Couture und Altenessen“ übereinander zu bekommen. Als es doch einmal klappte, gab eine Dame aus Bottrop unverhohlen und ehrlich zu, wie groß ihre Bedenken waren. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, ein, wie sie später sagte „Designereinzelstück-Schätzchen“, auf der „usseligen“ Gladbecker Straße zu erstehen. An dem Tag wurden Gedankenschranken durchbrochen.

Über meinen Absturz beim Ranking bestimmter Firmen will ich gar nicht nachdenken. Das könnte eine schwierige Sache werden, wenn ich mal einen Kredit, eine Versicherung oder sonst was brauche.
Schaut man auf den Internetseiten der Stadt Essen nach, wohne ich bezüglich der Ersteinteilung im Mietrankings auf unterstem Niveau. Viel mehr Ranking-Punkte erreicht ein Freund von mir, der auf selbiger B 224, nur eben im Süden, wohnt. Schaut man sich den Zustand seiner Wohnung im schlichten 60er-Jahre-Bau und das nahe Umfeld an, ist die ungleiche Einstufung kaum zu begründen.

Ich kenne übrigens sehr viele Menschen, denen man eine kleine Villa Hügel in Altenessen bauen könnte und sie würden trotzdem abwinken. Aus diesem Grund warne ich auch vor dem Allheilmittel „Wohnungsneubau“. Denjenigen, die immer wieder danach schreien, unterstelle ich sogar eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber dem Großteil der hier lebenden Menschen. Man insinuiert, dass das größte Problem hier der Beton sei und lenkt damit von den wahren Problemen ab. Ich weiß, wovon ich rede, denn auch meine Nachbarn und ich waren und sind betroffen vom oft unwahren Lügengeschwätz über „Schrottimmobilien“. Politik und Verwaltung nahmen es hin, uns in die Nähe von Schrottimmobilien zu rücken, damit sie selbst oder windige Immobilien-Betongoldschürfer gewachsene Nachbarschaften kaputt kloppen können. Längst vorhandene Komplettsanierungen unter ökologischen Aspekten ignorierte man eiskalt und ritt weiter das tote Pferd mit dem Namen „Besseres Umfeld durch Vertreibung redlicher Bürger“. Wer hier nach neuen Wohnvierteln ruft, sollte vorerst mal überlegen, wie eine völlig neu zusammen gewürfelte Bewohnerschaft überhaupt positiv auf einen Stadtteil mit gigantischen Infrastrukturmängeln wirken, respektive ausstrahlen kann. Ein Fachmann sagte mir, dass es mehr als ein Jahrzehnt dauern kann, bis sich überhaupt Auswirkungen zeigen.

Mein Fazit: Das eine tun, das andere aber vorher tun, soll heißen, den Fokus auf diejenigen richten, die jetzt hier leben und die unisono eins berichten: Infrastrukturell hat sich in Altenessen vieles zum Negativen verändert und das transgenerationelle Gedächtnis wird nur wenig gehegt und gepflegt. Ohne jemals ihre Heimat verlassen zu haben, wurde für viele Altenessener schleichend ein immer größer werdender Heimatverlust sicht- und spürbar. Eine gestörte Beziehung zwischen Mensch und Raum wuchs.

Nehmen wir das Beispiel des „Alten Schweinemarktes“. Wie heuchlerisch und bigott erscheint es, dass dort, wo einst Europas größter Ferkelmarkt war, noch immer keine große „Markierung des geschichtsträchtigen Ortes“ zu finden ist, während man am selbigen Ort den Verkauf von zum Teil billigst produzierten Fleisch- und Wurstwaren toleriert. Über den Verzehr von Fleisch und Wurst lässt sich trefflich streiten, über die Ortsgeschichte nicht. Die Schwäche und das fehlende Engagement von Politikern, ihr fehlender Mut zum Kampf und zu lautem Engagement für eine Sache werden hier sichtbar. Wenn dann noch ein Oberbürgermeister auftaucht und das Nord-Süd-Gefälle als nahezu „alternativlos“ vom Tisch fegen möchte, muss man sich nicht wundern, wenn sich einige Bürger im Norden (auf jeden Fall gedanklich) radikalisieren. Sie sind diejenigen, die die Waage ausgleichen zu all den Resignierten und Desillusionierten. Der Blick auf Altenessen ist vielfältig, was wir eindrucksvoll in diesen Tagen in der Presse und in den sozialen Netzwerken sehen. Die einen greifen zur Utopie, andere zur Retropie, einer schreibt fatalistisch, ein anderer sozialromantisch verklärt, und, und, und …

Als Bürger Altenessens müssen wir aufpassen, dass dieser „laute Tummelplatz des öffentlichen Auftritts“ nicht wieder zur vertrockneten Einöde wird, nachdem die verantwortlichen Stellschraubendreher und „Mächtigen“ wie so oft ihren Senf dazu gegeben haben, um dann ihr Würstchen doch ganz woanders zu essen, dort, wo das Leben in einer gemütlichen Komfortzone niemals den Frust erzeugen wird, der durch das ständige Liveerlebnis mit Dreck, Kriminalität, (Bildungs-)armut oder gescheiterer Integration hervor gerufen wird.

Liebe Altenessener, ich freue mich über jeden Bürger, der auch mal bölkt, der polarisiert und provoziert. Ihr seid die ausgleichenden Gewichte auf der Waage Altenessens. Ihr kennt Altenessen und seine Geschichte, ihr spürt und riecht Altenessen jeden Tag.
Ihr seid nicht irgendwelche naiven Nostalgiker, die die fehlende Identität mit dem Stadtteil nur beklagen, sondern Menschen, die klar und deutlich die verheerenden Folgen der Verluste benennen. Ihr seid das Sprachrohr für zu viele Verstummte.

Gänsemarkt, Pferdemarkt, Flachsmarkt, Webermarkt, … all das gehört zum Gedächtnis unserer Stadt, warum nicht längst der „Schweinemarkt“? Das ignorante Umgehen mit der Altenessener Geschichte ist beispielhaft und Grund für die vielerorts hörbare nachhaltige Empörung über zahlreiche als ungerecht empfundene Verluste. Statt bürgerfreundlicher Stadtteilentwicklungen wurden zu viele Wunden in das stadtteilverbundene Herz geschlagen. Es gibt eine erschreckend lange Liste der Verluste oder nicht eingehaltener Versprechen.

Der Wegfall von Fußball- und Bolzplätzen, Kinos, Kneipen, Kegelbahnen, Karnevalsumzügen, klassisch deutsch geprägtem Einzelhandel in den Quartieren, Kirchen, Restaurants, Minigolfplatz, Freibad, etc. führte zu einer gefährlichen Verknappung der Orte des sozialen Miteinanders. Der unvermeidliche Rückzug in „die eigenen vier Wände“ oder in andere Stadtteile spaltete still die Bürgerschaft und öffnete Tür und Tor für Parallelgesellschaften jeglicher Art.

Es gibt keine einfache Formel für einen schnellen Ausweg aus den vielen Problemen, es gibt aber einen einfachen Ansatz für das Sofort: Wir dürfen jetzt nicht aufhören über ein Altenessen zu reden, in dem die Altenessener und die Folgen von Identitätsverlusten beharrlich Thema bleiben.

Nicht eine Sekunde habe ich es bereut, nach Altenessen zu ziehen, aber von der ersten Sekunde an spürte ich die Andersheit des Lebens im Norden. Eine Andersheit, die manchmal knallhart und böse, dann aber doch voller positiver Bodenständigkeit, Herz und Lebenslust erscheint. Eine Andersheit, die es verdient hat, so in den Fokus einer Gesamtstadt zu rücken, dass himmelschreiende Ungleichheiten nicht mehr durch Ignoranz, Schönschwätzerei und Machtarroganz als gottgegebene Ungleichheiten bestehen bleiben.

Schluss mit dem Blabla über ein buntes Altenessen. Ich verwehre mich gegen die Vermittlung von Bildern, die uns auf die Stufe eines Kindergartens stellen, mit der Alltagsrealität aber nichts zu tun haben. Bunt? Was ist denn dann Bredeney? Schwarz-grün kariert? Ich kann diese Zwangsbeglückung mit blumiger Sprache nicht mehr ertragen, genauso wenig wie das ewige Herumreiten auf den „schönen Ecken“. Liebe Schöne-Ecken-Hinweiser, schreibt es euch ein für alle Mal hinter die Löffel: JEDER Altenessen weiß das, wirklich JEDER kennt die! Stellt euch mal lieber die Frage, warum ihr nie sagt „Bredeney hat auch ganz schöne Ecken“. Lasst es endlich sein, in Dauerschleife den Kaiserpark, die Zeche Carl oder einen neuen ALDI-Markt anzuführen, wenn Menschen über Probleme erzählen wollen. Hört auf, in Dauerschleife gute Integrationsgeschichten anzuführen, wenn Menschen über IHRE Erfahrung mit gescheiterter Integration berichten. Jeder Altenessener weiß, wie sich gute Integration darstellt, er ist nämlich Fachmann, zum Teil sogar seit Generationen, kapiert? Prima, dann nimm das: Mit hat diese Woche ein Türke erzählt, dass er sich in Altenessen nicht mehr wie in Deutschland fühle. Das sei nicht mehr sein Deutschland, das er so geliebt hat.

Nicht eine Sekunde habe ich es bereut, den Stempel „Altenessenerin“ zu tragen.
Für den Zustand Altenessens muss nicht ICH mich schämen, sondern eine Gesamtstadt, die ihn zugelassen hat. Die Vorurteile, Schranken und Friktionen in manchen Köpfen interessieren mich mittlerweile nicht mehr, es sei denn es handelt sich um die Köpfe der Nutznießer der Ungleichheiten, die aktiv oder durch Unterlassungen solche Schranken und Vorurteile immer wieder befeuern. Die Stadt unterlässt es übrigens seit mehr als fünf Jahren, Bürger darin zu unterstützen, dass die Fassaden, hinter denen sie leben, eine schönere Anmutung bekommen. „Fassaden sind die Gesichter eines Stadtteils“, sagt die Stadt und lässt uns Bürger der Gladbecker Straße eiskalt mit einem, vom ausufernden Verkehr verdrecktem und zerstörtem Gesicht im Regen stehen.

Wenn jemand meine Person an der „Fassade“ oder daran misst, ob ich ein Glas Stauder auf der Rüttenscheider Straße oder der berühmten „Gla“ verzehre, bitteschön, geschenkt. Wenn jemand aber „unser“ Altenessen weiterhin nur daran misst, was alles nicht geht, werden hoffentlich wir Altenessener und viele solidarische Menschen aus der Stadt keine Sekunde zögern, dem laut entgegenzutreten. In den Köpfen der Altenessener existieren längst Bilder eines schöneren Stadtteils. In zu vielen anderen Köpfen nicht und das ist das Problem. Es mangelt am „Essener Willen“ für eine gesunde und bürgerfreundliche Entwicklung im Essener Norden.

Zum guten Schluss: Heute ist Barbaratag. Viele Christen, die Barbara als eine der Nothelfer(innen) verehren, gedenken heute dieser Schutzpatronin. Ich sende euch ein herzliches Glück Auf, verbunden mit dem Wunsch, dass ihr gesund und geschützt bleibt. Und wenn du wirklich bis zu diesem Ende gelesen hast, hast du dir jetzt ein Stauder-Pils verdient. Prost.

Autor:

Susanne Demmer aus Essen-Nord

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