"Das ganze Revier müsste Welterbe sein"

Seit September 2013 wurden insgesamt 107 besondere Geschichten über den Bezirk gesammelt. | Foto: Mein Zollverein
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Anfangs stand die bange Frage: Schaffen wir es, genug Geschichten rund um die Zeche Zollverein zu sammeln? Doch die Anzahl an Erzählern brach alle Erwartungen. Deswegen konnte die Stiftung Zollverein nun das Buch „Mein Zollverein“ mit 107 Beiträgen quer durch alle Zeiten aus dem Bezirk VI - Zollverein vorstellen.

„Ich glaube, es war 1966“, erinnert sich der frühere Bergmann Rainer Vitzthum und berichtet, dass damals eine große Menge Wasser den Streb, einen Abbauraum, überflutet habe. „Die Pumpe, mit der das Wasser abgepumpt werden konnte, wussten wir in ungefähr 20 Meter Entfernung. Also haben mein Kumpel Manni und ich entschieden, zu tauchen“, beschreibt Rainer Vitzthum sein entschlossenes Vorgehen, um das Flöz doch zu erreichen.
Und es hat geklappt: „Ich lebe ja noch.“ Die Geschichte des Katernbergers und 106 andere Erzählungen im Schatten der berühmten Zeche können nun auch in einem Buch nachgelesen werden.

107 Geschichten in zweieinhalb Monaten

Seit September waren die Menschen aus dem Stadtbezirk VI – Zollverein eingeladen, die Erinnerungswerkstatt „Mein Zollverein“ zu besuchen. Auch viele Bewohner anderer Bezirke, die eine besondere Verbindung zu Zollverein haben, nahmen an den Workshops teil. Die Werkstatt war Teil des Projekts „Welterbe Zollverein – Mittendrin“.
„Wir haben die Menschen eingeladen, uns eine persönliche Geschichte rund um Zollverein zu erzählen“, eröffnet Claudia Wagner, Projektleiterin der Stiftung Zollverein. „Es sind Geschichten aus vielen unterschiedlichen Lebenswelten zu finden.“
So gebe es neben Erzählungen der alten Bergleute auch Berichte von Enkeln und Zugezogenen, die Zollverein als das neue „kulturelle Herz des Ruhrgebiets“ verstehen. Man wolle zeigen, wie die Menschen den Wandel auf der Zeche gestalten. „‚Mein Zollverein ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, heißt es.

Verknüpfung Welterbe und Bezirk Zollverein

Für die künstlerische Umsetzung der Idee war das Projektbüro „part3 – Partizipation in Kunst und Kultur“ mit an Bord. „Die einzelnen Geschichten bilden zusammen ein großes Mosaikbild“, sagt Bea Kießlinger, künstlerische Leiterin von „Mein Zollverein“. Denn die Altersspanne reiche von 17 bis knapp über 90 Jahre. „Wir sind im Bezirk alle miteinander verbunden.“, fasst sie die Kernaussage der 206 Seiten zusammen. Unterstützt wurde das Vorhaben von der RAG-Stiftung, die Kulturprojekte in Bergbauregionen wie dem Ruhrgebiet oder dem Saarland fördert.

Nicht alle konnten berücksichtigt werden

Bereits nach fünf Monaten war das Buch, das viele Fotografien enthält, druckreif. Die Präsentation fand im Erich-Brost-Pavillon auf der Kohlenwäsche statt. Claudia Wagner zeigte sich von der Resonanz begeistert: „Das ist ein neuer Punkt in der Nachbarschaftsbeziehung zwischen Bezirk und Weltkulturerbe.“
Die hohe Teilnehmerzahl zeige, dass der Bergbau in Zollverein damals wie heute verbinde, freute sich Bärbel Bergerhoff-Wodopia von der RAG. Und auch die Teilnehmer sind zufrieden: „Die Geschichten würde man sonst auf der Straße, nicht zu hören bekommen“, so Heike Möller. Die Berichte hätten emotional eine große Spannbreite, da sie direkt aus aus dem Leben stammten. Auch Anne Caplan, die früher als Studentin eine Ausstellung im SANAA-Gebäude mitgestaltete, lobt die Idee: „Ich finde es interessant, sich über Geschichten dem Welterbe zu nähern.“

Kurze Karriere als lebender Toter

Da sind Themen wie „Totgeglaubte leben länger“ von Karl-Heinz Tönnies, der 1952 der „erste offiziell Verstorbene im Berglehrlingsheim“ war. Denn der damals 16-jährige wurde beim Bau eines Zwischenschachts von einem Förderwagen eingeklemmt und sollte zur Sicherheit geröntgt werden. „Ich wurde ins Stoppenberger St. Vincenz-Krankenhaus gebracht“, berichtet er. Doch im Krankenhaus habe man seine Papiere mit denen eines tödlich verunglückten Bergmanns vertauscht – und er wurde für tot erklärt: „Unser Pfarrer rief im Lehrlingsheim an. Da war die Aufregung groß“, erinnert er sich an seine kurze Karriere als lebender Toter.

Doch es sind auch Geschichten neueren Datums dabei: Die heute 22-jährige Salma Randjoor kam mit vier Jahren als Flüchtling aus Pakistan nach Deutschland. Noch immer erinnert sie sich an ihren ersten Karneval im katholischen Kindergarten in Katernberg: „Ich war erschrocken über den Tumult. Alle sahen anders aus. Es gab Löwen, Indianer und Cowboys.“ Sie findet es schade, dass Vorurteile über den Bezirk um die Zeche Zollverein existieren. „Es gibt so viele positive und coole Dinge hier“, sagt Salma Randjoor.
Neben dem Buch entstanden ein Hörspiel und interaktive Karten mit Wegen durch die Stadtteile und das Zollverein-Gelände. Außerdem gibt es im Internet die Möglichkeit, Geschichten wie die von Karl-Heinz Tönnies als Kurzfilme mit Bildern anzuschauen.
„Anfangs erschien das Ziel, in zweieinhalb Monaten 100 Geschichten zu sammeln, kaum erreichbar. Aber das Projekt nahm Schritt für Schritt Fahrt auf“, so Bea Kießlinger. Man bedauere jedoch, dass nicht alle Geschichten gedruckt werden konnten. Denn der Bezirk VI – Zollverein biete einfach zu viel - oder um es mit den Worten von Renate Bodyl, einer Erzählerin, auszudrücken: „Ich meine, das ganze Revier müsste Welterbe sein!“

Weitere Informationen unter: www.mein-zollverein.de.

Autor:

Johannes Gläser aus Essen-Nord

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