KINDERGARTEN JA ODER NEIN?
EINE HELDIN ERZÄHLT

"Heute in einem Jahr sehe ich mich nicht mehr in der Kita!"
Lisa Tosi* blickt bei unserem Online Interview traurig in die Kamera. Der sympathischen Kindergartenleitung aus dem Ruhrgebiet geht es psychisch nicht gut. Die NRW Landesregierung bittet darum, dass Kindergartenkinder nach Möglichkeit zu Hause betreut werden. Das ist für Frau Tosi, genauso wie für viele andere Erzieher/innen zu "schwammig". Der stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp baut mit seinem Appell darauf, dass Eltern, die dazu beruflich und familiär in der Lage sind, ihre Kinder doch zu Hause zu betreuen.

Angesichts der dramatischen Zahlen in NRW und dem mutierten Virus würde Frau Tosi die Kitas schließen und nur für systemrelevante Eltern eine Betreuung anbieten. Eine Notbetreuung sei in vielen Kitas leistbar. Beim derzeitigen "Es liegt im Ermessen der Eltern Regelbetrieb" wird es schon wieder schwieriger. Immer wieder werden Erzieher/innen krank geschrieben, müssen sich in Quarantäne begeben oder zuhause  ihre eignen schulpflichtigen Kinder betreuen.

Lisa Tosi berichtet von Familien, die sehr vorsichtig sind, dem Appell folgen und ihre Kinder zu Hause lassen. Aber dennoch gibt es auch Familien, die ihre Kinder regelrecht "abschieben". Die Gründe für den Kita-Besuch trotz Appel der Landesregierung sind teilweise echt nicht nachvollziehbar und machen Frau Tosi wütend. Sie möchte hier (natürlich auch zum Schutz ihrer eigegen Person) keine Beispiele für Gründe nennen. "Es ist manchmal wirklich schockierend und nicht nachvollziehbar. Man kommt sich vor wie im falschen Film." Auffällig findet sie auch, dass Familien, wo beide Elternteile berufstätig sind, es möglich machen, dass die Kinder nicht die Kita besuchen und Paare, die beide nicht arbeiten eine Betreuung für ihre Kinder in Anspruch nehmen.
So gibt es immer wieder auch Eltern, die ihre kranken Kinder in die Kindertageseinrichtung schicken. Das war natürlich auch vor Corona schon ein Thema. Da wurden morgens Kinder abgegeben mit den Worten: "Der hat die ganze Nacht gebrochen, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung."
Die sympathische Kita-Leitung mahnt: "Kranke Kinder gehören nicht in den Kindergarten. Und gerade jetzt durch Corona sollten Eltern noch mal besonders sensibel und verstärkt darauf achten bzw. damit umgehen."

In Frau Tosis Einrichtung gab es auch schon einen Corona Fall. Eine Mitarbeiterin hatte sich infiziert. Ein Teil der bestehenden Gruppen musste sich in Quarantäne begeben. Die Erzieher/innen, die in Quarantäne geschickt wurden, wurden getestet und waren zum Glück alle negativ. Aber die Kinder wurden nicht getestet. "Und das ist für mich unverständlich", erklärt sie.

Frau Tosi hat ihre privaten Kontakte extrem reduziert. Ihre Freundschaften pflegt sie momentan per WhatsApp, E-Mail, Zoom und Telefonaten. Die einzige Aktivität, der sie alle paar Tage nachgeht, ist das Einkaufen ihrer Lebensmittel. Ab und an besucht sie natürlich ihre Eltern;  mit Abstand und Mundschutz versteht sich. Ein vorbildliches Verhalten, was sich jede Erzieherin bzw. jeder Erzieher auch von seinen Kollegen wünscht. Man muss darauf vertrauen, dass sich die Kollegen an die Auflagen halten, dass auch sie ihre Kontakte einschränken, dass sie nicht an irgendwelchen illegalen Partys oder Großveranstaltungen teilnehmen und sich an die "AHA Regeln" halten.

Die Kindergartenleitung steht da voll und ganz hinter ihrem Team. "Wir achten auf einander. Unsere Gesundheit und die unserer Kollegen ist uns wichtig. Jeder hat seine Kontakte herunter gefahren. Das Absurde ist ja, dass wir uns privat mit nur noch einer Person aus einem anderen Haushalt treffen dürfen und hier in der Kita mit mehr als fünfzig Personen zusammen kommen."
Überwiegend haben die Kita-Angestellten die gleichen Sorgen, Ängste und Nöte, so dass man sich untereinander verstanden fühlt.
In Frau Tosis Kita lassen sich zudem alle Erzieher/innen regelmäßig auf das Corona-Virus testen. Hier trägt man Verantwortung für die anderen.

Momentan sieht es in ihrer Kita so aus, dass die Eltern nach wie vor ein Betretungsverbot haben. Für jede Gruppe gibt es einen seperaten Eingang, an dem die Eltern ihre Kinder abgeben. Im Umgang mit den Kindern der eigenen Gruppe tragen die Erzieher/innen keinen Mundschutz. "Wir finden es aus pädagogischer Sicht mit Maske schwierig für die Entwicklung der Kinder,  die ja auch über Mimik und Gestik lernen. Wir dürfen bei den Kindern eine Maske tragen, aber müssen nicht", klärt die Pädagogin auf. Sobald die Mitarbeiter aber die eigene Gruppe verlassen und im Umgang mit anderen Kollegen und Eltern tragen sie einen Mundschutz. Frau Tosi kennt aber auch Kitas, in denen die Mitarbeiter den ganzen Tag über eine (FFP2)Maske tragen müssen, was sich nicht immer einfach gestaltet: Kinder, die emotional auf die Masken reagieren, Erzieher/innen, die aufgrund von Personalmangel keine Maskenpause machen können,...  .

Von ihrem Träger fühlt sich Lisa Tosi nicht immer gut unterstützt. Und dennoch weiß sie, dass das manchmal nicht zu ändern ist, da auch die Träger die Regeln der Landesregierung nicht umgehen können. Als unfair empfindet sie allerdings, dass manche Erzieher/innen von ihrem Träger eine Corona-Sonderzahlung bekommen haben und andere nicht. Wenn dann sollte es für alle gleich gehandhabt werden.

Joachim Stamp bezeichnet die Erzieher/innen in seinen Reden oft als Helden/Heldinnen der Pandemie. Dabei möchten die meisten pädagogischen Fachkräfte gar keine Helden sein. Sie machen ihren Job mit Herzblut, er ist ihre Leidenschaft. Sie möchten auch keinen Applaus, sondern einfach nur, dass den anderen Menschen mal bewusst wird, was sie da jeden Tag leisten. Ihr fehlt einfach die Wertschätzung. Wertschätzung durch die Politik, die Öffentlichkeit, aber auch durch viele Eltern. Ein Erzieher hat es mal mit drastischen Worten ausgedrückt: "Momentan riskiere ich jeden Tag in der Kita meine Gesundheit, ja vielleicht sogar mein Leben." Alle Arbeitgeber sollen ihren Beschäftigten so viel Home Office wie möglich anbieten. Doch den Erzieher/innen bleibt keine Wahl. Sie müssen, denn die Kitas sind weiterhin geöffnet.
Erziehr/innen sind jeden Tag einer möglichen Infektion ausgesetzt. Es gibt eine Auswertung der AOK. Darin heißt es, dass Erzieher/innen die Berugsgruppe mit den meisten Corona-Diagnosen hierzulande sind.

So wie Frau Tosi versuchen etliche Erzierher/innen in Deutschland während ihrer Arbeit nicht an Corona zu denken, d.h. sich keine Sorgen vor einer möglichen Ansteckung zu machen. Aber manchmal ist das gar nicht so einfach, besonders wenn man von den Kindern, aber auch den Familien hört, wo sie am Wochenende überall waren, wie viele Freunde sie getroffen haben, dass Geburtstage mit dem gesamten Familien- und Freundeskreis gefeiert wurde,...  .
"Ganz klar wünsche ich mir da mehr Solidarität von den Familien. Ich habe wie schon erwähnt, meine Kontakte reduziert, da wünsche ich mir das auch von den Familien. Nein, eigentlich erwarte ich es. Es wird immer gesagt "Gemeinsam schaffen wir das", aber das geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Ich habe das Gefühl, dass das Gemeinsam immer weniger wird."

Ein weiteres Ärgernis in Lisa Tosis Augen ist es, dass immer wieder über Schulen und Lehrer gesprochen wird. Erziehr/innen werden hingegen in ihren Augen weniger beachtet, diese Berufsgruppe wird weniger wahrgenommen.

Herr Stamp hat zudem in verschiedenen Kitas in NRW ein Tagespraktikum absoviert. Das betont er des öfteren ganz stolz. Aber kann er sich wirklich mit diesen wenigen Sequenzen (die wahrscheinlich größtenteils seiner Eigenwerbung dienen) ein reales Bild machen? Weiß er wirklich wie der Kita Alltag unter Corona aussieht, was sich alles verändert hat, was an zusätzlicher Arbeit hinzu gekommen ist, was nicht mehr wie gewohnt stattfinden kann?
Klar, die Alltagshelfer sind eine große Unterstützung und Hilfe. Aber die braucht man bei der Vielzahl an zusätzlichen Aufgaben und Personalmangel auch.
Frau Tosi nennt nur einige Beispiele: "Wir haben viel mehr Aufwand durch Corona und die Hygienemaßnahmen. WIr müssen mehr putzen und desinfizieren. Wir müssen die Kinder beim An- und Ausziehen begleiten, wenn sie gebracht und abgeholt werden, da die Eltern nicht in die Kita kommen dürfen. Wir müssen immer wieder zwischendurch mit den Kindern Hände waschen gehen und über Corona Regeln sprechen, die wir (auch die Kinder) einhalten müssen. Elterngespräche finden momentan telefonisch statt. Sie düften auch in Präsens mit Abstand und Maske stattfinden, aber die Erzieher/innen haben sich aus Schutzgründen dazu entschieden dies per Telefon zu tun."
Oft gibt es Neuerungen und Veränderungen, die mit dem Team und den Eltern kommuniziert und umgesetzt werden müssen. Das ist schon eine Herausforderung.

Während unseres Gespräches merke ich immer wieder, dass Frau Tosi ihre Arbeit und die Kinder am Herzen liegen. Aber warum trifft sie dann so eine Aussage?
"Heute in einem Jahr sehe ich mich nicht mehr in der Kita!"
Frau Tosi erklärt: " Durch die Pandemie ist mir richtig bewusst geworden, dass ganz viele Familien ihre Kinder abschieben wollen. Es macht den Eindruck, als seien die Kinder ihren Eltern lästig. Viele Eltern sind genervt von ihren Kindern. Und das finde ich nicht richtig. Mir ist klar, dass das System auch ohne mich so weiter laufen wird. Es wird ja auch von der Politik so unterstützt. Die Menschen sollen Kinder bekommen, aber spätestens nach einem Jahr auch wieder arbeiten gehen. Dafür können sie ja das Kind in der Kita lassen. Ich stehe da nicht mehr hinter und möchte das nicht länger unterstützen. Ich finde das schlimm.
Desweiteren hat sich in der Pandemie verstärkt die fehlende Wertschätzung gezeigt, besonders von der politischen und öffentlichen Seite aus betrachtet. Ich finde es nicht richtig, wie mit den Erzieher/innen umgegangen wird. Ich finde es auch nicht richtig, dass wir erst in der dritten Gruppe geimpft werden dürfen. Es wird immer betont, dass wir bevorzugt werden mit der Impfung. Ich finde aber, dass wir gar keinen Schutz im Gegensatz zu Pflegekräften und Krankenhausmitarbeitern haben. Diese sollen natürlich auch zuerst geimpft werden, aber mir ist es einfach zu spät, wann die Erziher/innen geimpft werden. Wir werden auf die gleiche Stufe gestellt wie Lehrer. Meines Erachtens sind Lehrer nicht so ungeschützt wie wir. Und momentan sind Lehrer zu Hause. Es gibt keinen Präsensunterricht, d. h. diese sind geschützt zuhause und machen dort ihr Home Schooling, was ich auch gut und richtig finde, aber ich finde es halt nicht richtig, dass wir immer auf die gleiche Stufe gestellt werden, wobei wir ja überwiegend schutzlos in der Kita sind. Das sind die Gründe warum ich eigentlich nicht mehr im Kitabereich arbeiten möchte"

Ich möchte mich bei Frau Tosi für die offenen Worte bedanken, die bestimmt einigen aus der Seele sprechen, aber andere vielleicht auch verärgern werden. Dazu möchte ich ergänzen, dass jeder die Pandemie aus seiner Sicht erlebt. Dabei spielen natürlich berufliche Faktoren, aber auch Erlebtes eine wesentliche Rolle. Dieser Bericht schildert Frau Tosis Erleben und Empfinden. Ich möchte auf gar keinen Fall unterstellen, dass alle Erzieher/innen so denken. Und genau so würde ich natürlich nie behaupten, dass alle Kitas in NRW voller Kinder sind (,die eigentlich auch zuhause betreut werden könnten). Manche Kindertageseinrichtungen haben momentan wenig Kinder in der Betreuung, andere dafür mehr bis erheblich mehr. Und nur die jeweiligen Erziehr/innen und Eltern werden die Gründe dafür kennen.

*Name geändert

Autor:

Nina Benninghoff aus Oberhausen

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