Durch die Himmelspforte

Logo: DiBo / Herzfoto: Markus Dowe
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Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind beabsichtigt und keineswegs zufällig ;-)
Die Handlung jedoch ist größtenteils frei erfunden. 

Für eine tolle ♡-liche Truppe 

Es war an diesem leicht sonnigen und teilweise etwas diesigen Spätherbsttag im Advent, als der Dreh stattfinden sollte. Ein Musikvideo sollte entstehen, etwas Kraftvolles und Tröstliches, Hoffnungsfrohes und Motivierendes. Für Menschen in der Sterbebegleitung, trauernde Angehörige, Kranke und für alle, die aus diesem Lied in bewegten Bildern etwas für sich mitzunehmen vermochten. Mission Wunschtraum nannte sich die Truppe, und es hatten sich hier die unterschiedlichsten Charaktere zusammengefunden.

Der vor Leben und Energie sprühende Reinhard hatte das Projekt ins Leben gerufen und die talentierten Sänger Lucinda und Rico mit ins Boot geholt. Auf der anderen Seite der Kameras warteten die kreativen Videofilmer Martin und Bernhard ebenso auf ihren Einsatz wie Fotozauberin Britta und die voll motivierten Statisten Annika, Diana, Ramona und Jan. Dann war da noch Karl von der Technik, der uns heute alle noch mit seinem Einfallsreichtum überraschen sollte.

Die gewählte Location war einfach magisch. Ein altes Denkmal mit zahlreichen Durchlässen in einem Waldstück, wo die Bäume teils schnurgerade angeordnet waren. Durchlässe, die wie Tore wirkten. Der noch milde Wind strich leise durch die Äste, letzte Blätter ritten auf dem Wind und tanzten schwungvoll über den dunklen Grund. Doch die Sonne verhüllte allmählich ihr Angesicht mit aufziehenden Wolken und auf einmal hing der typische Geruch nahenden Schnees in der Luft.

Doch die Truppe bekam von alledem gar nichts mit, so versunken waren sie in ihre Aufgabe. Auf der Bank saß ein gedankenverlorener Reinhard, der sich mit dem Tod auseinandersetzte, so wie es der Plot verlangte. Es war ein gutes Leben, ausgekostet bis zur Neige, bevor die Krankheit immer mehr die Macht ergriff. Denn nun ist sein Leben geprägt von Schmerzen, die ständig schlimmer werden. Von einer bleiernen Schwäche, die er nicht abschütteln kann. Nicht nur er leidet, auch seine Lieblingsmenschen tun es. Sie sind für ihn da, begleiten ihn durch diesen Abgrund. Doch seit einiger Zeit beschleicht ihn ein neues vages Gefühl, das er noch nicht richtig greifen, benennen kann.

Er setzt sich auf, wie es die Handlung vorsieht. Es ist gut. Es ist genug! Er ist an einem Punkt angekommen, wo er frei sein möchte. Aber wie mag das gehen in seiner Lage? Nun strafft er sich. Seine Entscheidung ist gefallen. Im neuen Jahr wird er reden mit seinen Herzensmenschen. Mit ihnen zusammen auf die guten und die unangenehmen Seiten seines Lebens zurückschauen. Und sie bitten loszulassen, wie auch er gerade anfängt, weiterzugehen. Zum Ziel seiner Reise. Wo vorher heller scharfer Schmerz in ihm wütete ob der ausweglosen Lage, kehrt nun langsam Frieden ein. Sie lieben ihn - sie werden verstehen.

Lucindas und Ricos so glockenhelles Duett zieht ihn in seinen Bann. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen folgt er mit ihnen der Kamera auf dem Weg zwischen den alten Bäumen. Die Statisten mit der Begleitmusik und dem Sack voll Laub, das dekorativ herunterrieselt, setzen sich langsam in Bewegung. Sie nähern sich einem der Tore am Denkmal und Karl wirft die Nebelmaschine und die großen Scheinwerfer an. Durch Licht und Nebel, so hat er es geplant, soll Reinhard im Finale diese Himmelstür durchschreiten und ins mystische Nichts entgleiten.

Inzwischen rüttelt der böige Wind an den Bäumen und verschwindet heulend wie ein getretener Hund im Inneren des Denkmals. Der Himmel ist bleiern und erste nasse Flocken wirbeln herab. Die kleine Karawane hat es fast geschafft und nacheinander treten wir durch unsere Himmelstür. Ich warte auf den befreienden Ausruf „Schnitt!“ und das anschließende lebhafte Lachen und Diskutieren der Szene. Doch da ist… nichts. Wo gerade noch der beginnende Sturm sein Unwesen trieb und sich alle darauf freuten, nun endlich ins Warme zu kommen und heißen Weihnachtstee und selbst gemachte Plätzchen zu genießen, setze ich wie in Trance einen Fuß vor den anderen. Die graue eiskalte Suppe um mich herum wabert und ich habe keine andere Möglichkeit, als mich von dem plötzlichen Sog mitziehen zu lassen. Von weitem flackert immer wieder ein helles Licht auf und ich höre verschwommene Stimmen, die ich nicht zuordnen kann.

Langsam wird es wärmer und ich habe auf einmal das Gefühl zu schweben. Es wird auch heller und Farben schimmern zögernd durch den Nebel. Oh ja, so könnte ich ewig weiterfliegen! Und dann ist es soweit, wie von Zauberhand bricht der Nebel auf. Vorsichtig lasse ich mich zu Boden gleiten und beginne mich umzusehen. Ich sitze auf einer Wiese im allerüppigsten Grün. Bunte Blumen sprießen und verströmen einen schier unglaublichen Duft. Und der Himmel erst! So einen azurblauen Himmel habe ich noch nicht mal am Mittelmeer erlebt. Die Sonne strahlt angenehm und ich lenke meine Schritte zu der mächtigen Eiche am leise gluckernden Bachlauf. Doch ich bin keineswegs alleine dort, ein paar Rehe und Hasen stillen ganz unbefangen ihren Durst und scheinen keine Angst zu kennen. Einige Vögel stieben laut keckernd auf, andere hingegen bleiben in der Baumkrone und zwitschern ihr schönstes Lied.

Ein vollkommener Friede erfasst mich und ich versenke meine Hand in das weiche Fell des kleinen Kaninchens neben mir. Und dann erblicke ich ihn. Ihn, den ich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen habe. Das dunkle volle Haar mit dem Seitenscheitel, das spitzbübische Lachen in seinem Gesicht. Die eingefallenen Züge, das pfeifende Geräusch eines gequälten Atems, die dunkelvioletten Schatten unter den Augen - alles vorbei. Die gelähmte rechte Seite mit der seltsam gekrümmten Hand gibt es nicht mehr. Kraftvollen Schrittes nähert er sich bis er auf der anderen Seite des Bachs zum Stehen kommt. Ich möchte aufspringen, jubeln, in seine Arme springen - doch meine Füße wollen mir nicht gehorchen. Aber das ist in diesem besonderen Moment auch gar nicht nötig. Ich fühle mich eingehüllt in seine starke Aura, wortlos kommunizieren wir miteinander. Und ich weiß es plötzlich ganz genau, er hat über jeden meiner Schritte gewacht.

Ich brauche ihm nichts zu erzählen, denn er weiß es ja alles schon längst. Sein ganz typischer Geruch umgibt mich wie ein Kleid, das ich nie mehr ausziehen will. Er lächelt mir zu und nickt, und in diesem Nicken liegt die Weisheit der ganzen Welt. Nein, die des Himmels, oder wo auch immer ich mich gerade befinde. Und ich bin glücklich. Nach viel zu kurzer Zeit beginnt sein Bild zu verschwimmen, sich zu verzerren. Ich greife nach ihm - und halte das kleine Kaninchen in der Hand. Es putzt sein Gefieder und verliert sich mit lautem Flügelschlag im Nichts. Ich schreie lauthals auf, bevor ich mich in plötzlicher Dunkelheit verliere. Wo bin ich? In der Zwischenwelt? Beim Videodreh mit meinem Team? Merkwürdig, kommt es mir plötzlich in den Sinn, ich war doch gar nicht dabei an diesem Tag, ich habe nur die Fotos gesehen und mich an der Diskussion beteiligt… Was geschieht hier gerade mit mir?

Von ferne dringt Musik an mein Ohr. Eine schöne Melodie, ja genau, die vom Video! Aber sie ist so laut… ich höre mich knurren und merke, wie ich mich auf die andere Seite drehe. Ich drücke mir die Hände auf die Ohren, doch dann schrecke ich hoch. Schweißgebadet liege ich da und schnappe nach Luft. Der Radiowecker mit meinem Lieblingssong dröhnt und schein mich milde zu verspotten. Ich strampele die Decke weg und recke mich ausgiebig, den Kopf angefüllt mit den Bildern aus meinem Traum. Den Schluss davon will ich ganz schnell vergessen! Ich setze mich auf die Bettkante und sammle mich, um dem neuen Tag ins Gesicht zu sehen. Doch plötzlich streicht ein ganz zarter Windhauch über mein Gesicht - mit deinem Geruch.

(c) Christiane Bienemann, im Advent 2017

Autor:

Christiane Bienemann aus Kleve

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